Interview mit Tom Sommerlatte

Multitalent auf leisen Sohlen

Wer Tom Sommerlatte nicht kennt und ihm –vielleicht bei einer Vernissage – begegnet, der trifft auf einen sehr höflichen, zurückhaltenden Kunstfreund, dem man seine 80 Jahre nicht glauben mag. Wer ihn, den erfolgreichen Manager, Chemiker und Künstler aber in der Ausstellung seiner Werke im Kunsthaus Taunusstein erlebt hat, wer sogar von ihm durch seine Schaffensperioden geführt wird, der lernt einen Tom Sommerlatte kennen, der ebenso mitreißend wie präzise in der Beschreibung seiner Arbeiten, der ebenso nachdenklich wie überraschend offen ist. Für die Freunde des Museums Wiesbaden, in deren Kuratorium Professor Dr. Tom Sommerlatte seit Gründung des Vereins mitwirkt, gab er Einblicke in sein spannendes Leben.


Spurensicherung: Tom Sommerlatte führt durch seine Ausstellung im Kunsthaus Taunusstein. Erlebtes, Erfundenes und Erdachtes bringt er den Besuchern nahe. (Foto: Reinhold Berg)
Spurensicherung: Tom Sommerlatte führt durch seine Ausstellung im Kunsthaus Taunusstein. Erlebtes, Erfundenes und Erdachtes bringt er den Besuchern nahe. (Foto: Reinhold Berg)

Herr Professor Sommerlatte, Sie haben sich in Ihrem vielfältigen künstlerischen Schaffen mit den sieben Tugenden auseinandergesetzt – welche ist Ihnen die Wichtigste?

Die Liebe. Wie es im Neuen Testament steht. Sie ist das A und O.

Dieser Zyklus hat eine Verbindung zu Wiesbaden …

Das ist eine längere Geschichte: Mein Rotarier-Freund Dr. Czech, der das an der Wilhelmstraße dann doch nie gebaute Stadtmuseum leiten sollte, hatte vor Jahren im Keller des Alten Rathauses die sieben Tugenden in einer Kiste gefunden. Eichenholztafeln aus dem 17. Jahrhundert! Sie stammen von dem Straßburger Künstler Hans-Jacob Schütterlin und waren ca. 1609 fürs Rathaus in Auftrag gegeben worden.

Um dann irgendwann in Kisten zu verschwinden?

Ja, sie wurden wohl 1828 beim Umbau abgehängt. Heute finden Sie die sieben Tugenden außen über den Fenstern des heutigen Standesamtes, aus Stein. Die Bürger wollten in allen Städten früher, dass der Bürgermeister die Tugenden hochhält. Deshalb gab es auch überall diese Darstellungen. Herr Czech stellte die alten Holztafeln dann im heutigen Rathaus aus. Aber kaum jemand interessierte sich dafür. Die Verkörperung der Tugenden durch wohlbeleibte weibliche Figuren ist heute nicht mehr verständlich.

Und Sie haben dann, motiviert von ihrem rotarischen Freund Czech, die Tugenden neu und sehr farbenfroh als Reliefs geschaffen.

Nach längerem Überlegen habe ich die Motive aus Hartpolystyrol gearbeitet, vier davon waren mal in einer Ausstellung der Gruppe 50 ausgestellt, der ich angehöre. Jetzt, im Kunsthaus Taunusstein, waren alle erstmals zu sehen. Sie haben offenbar den Besuchern gut gefallen. Es wird übrigens ein Buch darüber von Wolff Mirus geben, der die alten und die neuen Darstellungen der Tugenden gegenüberstellt.

Das Thema ist Ihnen sehr wichtig?

Ja, wenn die Menschheit doch nur die drei christlichen und die vier Kardinaltugenden aus der griechischen Antike mehr berücksichtigen würde!

PDF: Detailbeschreibung zur Reliefserie „Die 7 Tugenden“ von Tom Sommerlatte

Glaube, Liebe, Hoffnung – aus dem Zyklus „Die sieben Tugenden“. Die Wichtigste ist dem Künstler die Liebe, das Relief ist links im Bild. (Foto: Reinold Berg)
Glaube, Liebe, Hoffnung – aus dem Zyklus „Die sieben Tugenden“. Die Wichtigste ist dem Künstler die Liebe, das Relief ist links im Bild. (Foto: Reinold Berg)

Sie haben einen runden Geburtstag gefeiert, lassen Sie uns einmal auf Ihre Jugend zurückschauen: naturwissenschaftliches Studium in Berlin und im Ausland, Teilnahme an Kunstklassen der Hochschule für Bildende Künste in Berlin, Abschluss eines Master of Business Administration in Frankreich – war dieser Weg in Ihnen schon früh angelegt?

Fangen wir mit der Kunst an. Meine Mutter war Malerin, durfte aber nicht studieren. Sie hat immer gezeichnet, meinen Bruder und mich angeleitet, das, was wir sehen, zu malen. Mit vier konnte ich perspektivisch zeichnen. Nebenan wohnte ein künstlerisch begabter Bankdirektor, auch der hat uns gefördert.

Aber Sie studierten dann Chemie.

Ja, die Naturwissenschaften hatten mich in der Schule schon sehr interessiert – neben dem Zeichnen. Ich folgte dem Rat meiner Familie und machte „was Vernünftiges“.

Aber ohne die Kunst aufzugeben.

Ich war an der FU in Berlin im Asta Kulturreferent, und wir haben regelmäßig Ausstellungen gemacht: Studenten malen. Das war 1959/1960.

Sie haben unter anderem in den USA und in Frankreich ihre Studien betrieben. Das war früher nicht unbedingt üblich.

Ich hatte einen sehr internationalen Onkel. Der hat mich auf diesen Weg gebracht.

In der Forschung waren Sie unter anderem mit einem heute hoch aktuellen Thema beschäftigt, mit der Künstlichen Intelligenz?

Mich interessierte bessere Planung, da hilft die Künstliche Intelligenz.

Aber Sie wollten sich auch noch in der Betriebswirtschaft auskennen …

Ja, die Frage heißt doch: Was wird aus dem, was wir machen.

Und aus Ihnen wurde ein höchst erfolgreicher Manager, der auch noch Zeit für künstlerisches Schaffen fand. Hatten Sie diese Karriere, die Sie beim Management-Beratungsunternehmen Arthur D. Little ganz nach oben führte, so geplant? Sie wirken irgendwie unverwundbar.

Ich hatte immer Menschen, die mich sehr gefördert haben. Natürlich wollte ich auch vorankommen. Aber unverwundbar? Nein, das würde ich nicht sagen. Meine Hartnäckigkeit hat mir immer geholfen, und die Devise, dass man aus Fehlern, Problemen und Rückschlägen lernt. Dass man aus Ihnen mit zusätzlicher Weisheit hervorgehen kann. Da sind wir wieder bei den Tugenden, bei der Mäßigung und bei der Weisheit.

Ein Karriere-Typ auf leisen Sohlen, das sind Sie schon.

Es gab ja auch die ständig wachsende Familie. Da spielte der materielle Aspekt eine wichtige Rolle.

Stichwort Kinder: Sie haben mit Ihrer aus Frankreich stammenden Frau Christine elf Kinder aufgezogen, dazu noch ein Pflegekind. Wie ging das mit Ihrer beruflichen Engagement und den künstlerischen Ambitionen zusammen? Sie haben sicher eine starke Ehefrau.

Ja, das stimmt. Mit den Kindern habe ich aber schon viel gemeinsam gemacht. Mit ihnen gelesen und ihnen Geschichten erzählt. Einige der Kinder sind übrigens auch künstlerisch begabt, sind in der Malerei, der Architektur, der Schauspielerei und Regiearbeit, in der Filmproduktion sowie im Tanz zu Hause.

Eine Tochter ist ins Kloster gegangen, was Sie auch in einem Bild-Zyklus behandeln, der sehr eindrucksvoll im Kunsthaus Taunusstein zu sehen war.

So ist es. Die älteste Tochter hat nach dem Studium der Philosophie und Theologie diesen Weg gewählt und lebt bei den Karmeliterinnen in einem Kloster in Cognac. Ein kontemplativer Orden, kein missionarischer. In ihrer Studienzeit hatte sie ein Praktikum bei Mutter Teresa gemacht, war aber zur Erkenntnis gekommen, dass man den notleidenden Kindern auf Erden kaum helfen kann. Es gibt nur kurze Besuche bei ihr, man sieht und hört sich durch ein vergittertes Fenster. Wir schreiben uns. Ich glaube, sie ist die Glücklichste von allen.

Sind Sie Katholik?

Mit 55 bin ich vom Protestanten zum Katholiken geworden – nachdem ich mich sehr intensiv damit beschäftigt hatte.

In Ihrer Ausstellung waren auch die so genannten Kinderbilder zu sehen.

Die habe ich für die Kinder gemalt, sie hingen in ihren Zimmern. Jedes hat eine bestimmte Aussage, so wie das Bild „Kinder auf dem Weg in ein Land, in dem man sich nicht streitet.“

Von den Kindern zur Erotik. Die spielt, wie Sie selber sagen, auch eine Rolle in Ihren Bildern.

Ja, auch ein wichtiges Thema.

Hat Ihre Frau eigentlich Ihr künstlerisches Schaffen unterstützt?

Ich würde sagen, toleriert. Sie hat meine Malerei begleitet, mich aber nicht angespornt. Sie hat viel Verständnis im Laufe der Zeit entwickelt. Ich hatte ja sogar auf unserer Hochzeitsreise gemalt, das fand sie nicht so gut.

Welche Ihrer Schaffensphasen gefällt Ihnen heute besonders?

Die Serie mit Zeichnungen, die in Kroatien entstanden sind. Das ist in sich geschlossen, da hatte ich in einer anderen Welt gelebt. In einer Art Paradies, ich war jung und ich war verliebt. Das war mit die schönste Zeit.

Wenn Sie den Sommer in Ihrem Haus am Atlantik in Frankreich verbringen, sind Sie dann auch wieder viel in Ihrem Atelier?

Ich bin gespannt, was in den Wochen meines Aufenthalts dort entsteht, ich habe immer das Bedürfnis, zu experimentieren. Manchmal bin ich am Schluss ganz überrascht.

1958 / Berlin, Tuschezeichnung auf Papier
1958 / Berlin, Tuschezeichnung auf Papier

Sie sind auch ein Wortkünstler, geben Ihren Arbeiten gerne sehr zum Nachdenken anregende Überschriften. Was zum Beispiel wollen Sie mit „Die Entdeckung eines neuen Kontinents zwischen Luxemburg und Belgien“ sagen?

Das ist ein gutes Beispiel: Zwischen Luxemburg und Belgien, wo ich einmal gelebt habe, kann man keinen neuen Kontinent entdecken. Aber auch sonst nirgendwo. Die Erde ist abgegrast. Deshalb muss man einen neuen Kontinent in einer anderen Dimension entdecken.

In welcher?

In der Fantasie, da hat man viel mehr Gestaltungsspielraum. Man kann sich einen anderen Kontinent schaffen mit eigenen Wünschen, Hoffnungen, man kann Spielerei entfalten, sich mit menschlichen Beziehungen, auch mit der Erotik auseinandersetzen.

Dazu gibt es auch eine Edition …

Ja, es ist dokumentiert, es gibt eine Kassette mit allen Kupferstichen und Texten. Zwei sind noch übrig.

Gehen wir nochmal kurz zurück in Ihre Kindheit. Es gibt ein so schönes Landschaftsbild vom Kulturpark in Wörlitz. Sie sagen, es entstand durch die Kriegserinnerungen eines kleinen Jungen.

Ich war sieben, als meine Mutter meinen kleineren Bruder und mich in den Transportzug von Dessau nach Wörlitz schickte, um dem Flammenmeer in Dessau zu entkommen. Das war am 7. März 1945. Dieses Licht in Wörlitz hat mich fasziniert. Mit etwa 60 habe ich das Erinnerungsbild gemalt. Alle meine Erinnerungsbilder haben unterschiedliche Abstraktionsstufen. Ich wollte immer vom Gegenständlichen zur Abstraktion kommen.

Herr Professor Sommerlatte, Sie sind heute 80, noch geschäftlich beratend und künstlerisch aktiv. Sie gehören dem Kuratorium der Freunde des Museums an. Wie halten Sie sich so fit?

Sport ist mir wichtig. Skilaufen, Segeln, Schwimmen.

Schauen wir auf das Museum Wiesbaden. Was gefällt Ihnen hier besonders?

Der persönliche Kontakt zu sehr engagierten Menschen, die den Mut haben, auch mal relativ gewagte Ausstellungen zu machen. Ich war übrigens Gründungsvorsitzender im Kuratorium des Freunde-Vereins. – Wenn ich noch etwas Kritisches sagen darf …

Aber ja.

Ich bin auch im Ritschl-Verein aktiv, der seit 1976 den Nachlass des Künstlers betreut. Wir haben einen Kooperationsvertrag mit dem Museum Wiesbaden, in dessen Depot zahlreiche Bilder von Otto Ritschl sind. Aus Frankreich und den USA kommen manchmal Freunde von uns, die wollen gerne Ritschl-Werke sehen. Aber meistens hängen keine in den Museumsräumen. Das müsste sich ändern. Die enttäuschten Besucher müssen nach Mainz oder Wuppertal fahren. Andererseits ist Katharina Grosse, die ja den Ritschl-Preis von Museum und Verein erhalten hat, ständig vertreten mit ihrer Installation.

Gibt es neben den Ritschl-Bildern im Depot Lieblingsbilder für Sie im Museum Wiesbaden?

Ich liebe die Jawlensky-Werke. Und bin auch sehr affin für Bilder der Blauen Reiter. Es ist die Freude an der Farbe, wie beispielsweise bei August Macke, dessen Enkelin ich gut kannte.

Was würden Sie sich für das Museum wünschen?

Dass der Ausbau des Südflügels kommt. Dass die Bevölkerung noch mehr das Museum Wiesbaden als Perle empfindet. Und dass die Mitgliederzahl des Freunde-Vereins weiter nach oben geht und auf 2000 steigt.

Das Gespräch führte Ingeborg Salm-Boost

2007/2, Öl auf Leinwand
2007/2, Öl auf Leinwand


Zur Person

Tom Sommerlatte hat in Berlin, New York und Paris sein naturwissenschaftliches Studium absolviert. Schon zu dieser Zeit widmete er sich auch der Kunst und bildete sich an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin fort. Auf Reisen entwickelte er seine Zeichen- und Malkonzeption fort. Schlaglichter aus seinem beruflichen Werdegang: Forschungstätigkeit auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz und des Wissensmanagements bei der Studiengruppe für Systemforschung in Heidelberg, Ausbildung zum Master of Business Administration am Europäischen Institut für Unternehmensführung in Fontainebleau. Karrierestart beim internationalen Beraterunternehmen Arthur D. Little bis hin zum Vorsitzenden der weltweiten Managementberatung. Heute noch ist Tom Sommerlatte Vorsitzender des Beirates der Arthur D. Little GmbH. Eine Retrospektive seines künstlerischen Schaffens, das er nie vernachlässigt hat, war kürzlich im Kunsthaus Taunusstein im Stadtteil Niederlibbach zu sehen. Dies wurde von dem Sammler-Paar Irene Haas und Ulrich von Gemmern gebaut, das auch das Kunsthaus betreibt. Jörg Daur, stellvertretender Direktor des Museums Wiesbaden, hatte die Ausstellung kuratiert. Tom Sommerlatte ist in Engenhahn und in St. Palais-sur-Mer zu Hause, wo er mit seiner französischen Frau Christine gerne den Sommer verbringt. Beide haben gemeinsam elf Kinder. Auch ein Pflegekind wurde in der Familie groß. Tom Sommerlatte engagiert sich unter anderem im Kuratorium der Freunde des Museums, dessen Gründungsvorsitzender er war. Auch ist er im Vorstand des Ritschl-Vereins aktiv. Und er gehört der Künstlergruppe 50 an. Gefördert fühlte sich der Künstler, der eine Honorarprofessur in Systemdesign an der Kunsthochschule der Universität Kassel hatte, von der Wiesbadener Malerin und Ehrenbürgerin Christa Moering.

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