Kunstvoll und Naturnah

Abstrakte Ikonen

Otto Ritschl: Viertes Bild aus dem Jahr 1931, Frühwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Viertes Bild aus dem Jahr 1931, Frühwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer

Als ich 1973 aus Paris und Brüssel kommend nach Wiesbaden umzog, war mir der Maler Otto Ritschl als einer der Exponenten der deutschen abstrakten Nachkriegskunst zwar ein Begriff, weil ich einige seiner Werke 1959 auf der documenta II in Kassel gesehen hatte. Ich wusste aber nicht, dass ich den damals 88-Jährigen in seinem Wiesbadener Atelierhaus hätte erleben können. Erst einige Jahre später wurde ich zu den sonntäglichen Matinees ins Ritschl-Haus eingeladen, die nach seinem Tod dort stattfanden und bei denen ich seinen umfangreichen künstlerischen Nachlass kennenlernte.

Dass ich mich seitdem immer intensiver mit diesem Werk beschäftigte, beruht auf meiner Einschätzung, dass es sich bei Otto Ritschl um einen bisher in seiner künstlerischen Bedeutung und Qualität noch unzureichend gewürdigten Künstler handelt, der aus einer kunstethischen Haltung heraus in den letzten 20 Jahren seines Schaffens, die Erwartungen und Anforderungen des Kunstmarktes bewusst ignorierend, mit absoluter Konsequenz den einsamen Weg seiner vergeistigten Malerei gegangen ist.

Otto Ritschl: Sechstes Bild aus dem Jahr 1955, Geometrische Werkphase, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Sechstes Bild aus dem Jahr 1955, Geometrische Werkphase, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer

Diesen Weg in seinem Werk nachzuvollziehen, erlauben die von ihm exemplarisch designierten Bilder, eine Auswahl von 160 aus seinem Gesamtwerk von rund 1.600 Bildern.

In seinem Frühwerk (1920er bis gegen Ende der 1940er Jahre) sind Bildthemen und Bildtitel die klassischen figürlichen der damaligen Zeit (etwa „Der Maler und sein Modell“, „Zwei Figuren“, „Stillleben mit Pfeife“ oder „Der  Zeitungsleser“), bei denen die malerische Gestaltung, die Art der symbolischen Abstrahierung, die Bildatmosphäre und die Bildkomposition das ausmachen, was Ritschl gegenüber der damaligen, sehr ähnlichen Malerei eigenständig sein ließ. Dann bewegt sich Ritschl jedoch innerhalb weniger Jahre über die Betonung und schließlich abstrahierende Unabhängigkeit der Linien und flächigen Formen auf rein geometrische Farb- und Formenkompositionen zu, die ab Mitte der 1950er Jahre sein Werk charakterisieren. Für Ritschl muss das eine Art endgültiger Befreiung von gegenständlichen Motiven und die Entdeckung und souveräne Gestaltung von reinen Farb- und Formenwirkungen bedeutet haben. Die so gewonnene Unabhängigkeit von Bezügen zu Motiven drückt sich auch darin aus, dass Ritschl von nun an auf Bildtitel verzichtet und seine Bilder nur noch durch das Entstehungsjahr und chronologisches Durchnummerieren bezeichnete. Was die scharf gegen einander abgegrenzten Farbflächen („hard edge“) zu mehr als einer Ansammlung von homogen farbigen Formen macht, sind das kompositorische Kalkül der Farbwirkungen aufeinander und das Rhythmisieren der geometrischen Strukturen. Mit  diesen Bildern wurde Ritschl seinerzeit von der Kunstkritik als einer der Avantgardisten der deutschen Nachkriegskunst eingestuft und zur documenta I und II eingeladen.

Otto Ritschl: Zwanzigstes Bild aus dem Jahr 1955, Geometrische Werkphase, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Zwanzigstes Bild aus dem Jahr 1955, Geometrische Werkphase, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer

Aber schon gegen Ende der 1950er Jahre erweitert Ritschl in seinen Bildern das Repertoire an Formen und Farbflächen und arbeitet mit immer unbestimmteren, zunehmend inhomogenen Farbbereichen und feiner nuancierten Farbtönen. Was hat ihn dazu bewegt, seine in der Kunstszene etablierte Identität zu verlassen? Ritschl hat dazu bewusst keine expliziten Erklärungen gegeben, er erwartete offenbar, dass die kunstinteressierten Betrachter unmittelbar die neue Dimension seines Schaffens erkennen, die über reine Farb- und Formenwirkungen hinausging und der ein geistiger Zustand, eine unausgesprochene Tiefe, eine Auseinandersetzung mit Substanziellem zugrunde liegt. Diese Auseinandersetzung, die Ritschl mit großer Schaffenskraft und Konsequenz betrieb, fordert dazu heraus, jedes Bild über seine formalen, ästhetischen und stilistischen Aspekte hinaus auf die Resonanz hin wirken zu lassen, die es mit dem eigenen Bewusstsein erzeugt. Diese Resonanz entsteht wahrscheinlich nur bei denjenigen, die im Spätwerk Ritschls ihr eigenes Suchen, Ahnen und Sehen widergespiegelt finden. Ritschl kommt in seinem Spätwerk wieder zu Motiven zurück, aber zu unaussprechlichen, zu einer Kommunikation zwischen verwandten Geistern, die verbal zu benennen verpönt und irrig wäre. Die Bilder werden zu Ikonen einer höheren Bewusstseinsdimension, zu abstrakten Ikonen.

Otto Ritschl: Fünfzehntes Bild aus dem Jahr 1967, Spätwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Fünfzehntes Bild aus dem Jahr 1967, Spätwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Dreißigstes Bild aus dem Jahr 1970, Spätwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Dreißigstes Bild aus dem Jahr 1970, Spätwerk, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer

Wenn man diese Kunstdimension der Abstrakten Ikonen als eine für unsere Zeit zu entdeckende und wesentliche ansieht, dann kann man ihr Werke zeitgenössischer Künstler zurechnen, die bisher nach eher formalen Kriterien als ganz anderen Kunstströmungen angehörig oder sie bestimmend gehandelt werden, beispielsweise das Spätwerk von Alexej von Jawlensky, von Wols, von Mark Rothko oder von Ad Reinhardt.

Für diese Künstler wurde ihr Werk wie für Otto Ritschl lebensbestimmend. Ihre Bilder entstanden als Ikonen ihres Ringens. Sie zeigen mehr als Du siehst. Deswegen hilft es nicht wirklich weiter, zu versuchen, sie zu beschreiben. Die Resonanz muss beim unmittelbaren Schauen entstehen. Bilder wie die folgenden können „auf den Sprung helfen“. Es sind allerdings nur Abbildungen – die Originale befinden sich im Museum Wiesbaden.

Die Sammlung Abstrakte Ikonen, die der gemeinnützige Museumsverein Ritschl e.V., Erbe des Nachlasses Otto Ritschl, in Zusammenarbeit mit dem Museum Wiesbaden pflegt und weiterentwickelt, ist diesem Kunstverständnis verpflichtet.

Prof. Dr. Tom Sommerlatte

Otto Ritschl: Zweiundzwanzigstes Bild aus dem Jahr 1972, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer
Otto Ritschl: Zweiundzwanzigstes Bild aus dem Jahr 1972, Werkverzeichnis des Museumsvereins Ritschl e.V., Verlag Hirmer

Erfahren Sie mehr über Prof. Dr. Tom Sommerlatte, Vorsitzender des Vorstands des Museumsvereins Ritschl e.V. und Kuratoriumsmitglied bei den Freunden des Museums Wiesbaden, im Interview.

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