Ausflug zu Otto Ritschl
Schlafzimmerbilder eines abstrakten Klassikers
Es ist lange her, dass das Spätwerk Otto Ritschls mit all seinen Facetten öffentlich zu sehen war. Genau genommen wurde es noch nie so gezeigt, wie es aktuell in der Ausstellung „Otto Ritschl – Bilder der späten Jahre“ präsentiert wird. Denn im Kunsthaus Wiesbaden sind bis zum 14. Juli dreißig Werke ausgestellt, die Ritschl selbst als „Schlafzimmerbilder“ bezeichnet hat. Den kuriosen Namen erhielten diese Werke, weil der Künstler sie in seinem kleinen Schlafzimmer vor Sammlern versteckte, die eines dieser Bilder erwerben wollten. Mit dem Hinweis, die erwünschten Leinwände seien gerade auf Reisen, wusste Ritschl diese Bilder in seinem Besitz zu halten, die er als seine Hauptwerke einschätzte. Und so waren sie seit seinem Tod 1976 noch nie in dieser Konstellation zu sehen.

Die Schlafzimmerbilder bilden den Kern von Ritschls künstlerischem Vermächtnis – und das belegt die aktuelle Ausstellung eindrucksvoll. Wie Perlen auf einer Schnur reihen sich die 30 Werke im großen Ausstellungssaal auf dem Wiesbadener Schulberg aneinander, alle im selben Hochformat von 130 x 97 cm, darunter auch die letzten Bilder, die Ritschl wenige Tage vor seinem Tod vollendete. Durch die Konzentration auf diese Werkgruppe wird im Kunsthaus ein Seh-Erlebnis geboten, das seine malerische Entwicklung in den letzten Jahren konsequent und zwingend erscheinen lässt.

Die Ausstellung bietet jedoch auch den Kontext, in dem dieses beeindruckende, in der abstrakten Kunst jener Jahre singuläre Werk entstanden ist. Denn eine weitere Besonderheit dieser Schaffensphase ist, dass sie mit dem Umzug des Malers in sein im Jahr 1960 errichtetes Wohn- und Atelierhaus in der Wiesbadener Schumannstraße begann. Nach dem Tod seiner Frau Dora – der gemeinsame Sohn Helmut blieb im Krieg verschollen – entschied sich Ritschl mit 74 (!) Jahren, den Architekten Johann Wilhelm Lehr (1893–1971) mit diesem Neubau zu beauftragen, um sich dort künftig ganz auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Lehr, einer der Heroen des Neuen Bauens – der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit seinen revolutionären Bauten international Anerkennung gefunden hatte und zu dessen Auftraggebern etwa der „Vater des deutschen Rundfunks“ Hans Bredow zählte – war ein Freund Ritschls. Gemeinsam entwickelten die beiden ein Haus, das ganz auf die Bedürfnisse des Malers zugeschnitten war und zu den schönsten Künstlerdomizilen der Republik zählte. Leider wurde dieses Haus 1987 – trotz öffentlicher Proteste – abgerissen. In der Ausstellung sind jedoch neben Fotografien auch das Original-Modell des Hauses sowie die Staffelei ausgestellt, und ein Film des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1965 gewährt einen seltenen Einblick in das legendäre Atelier des Malers.

Die letzten 16 Jahre umgab sich Ritschl nur mit engsten Vertrauten, nachdem er in den eineinhalb Jahrzehnten zuvor sehr rege am deutschen Kunstbetrieb teilgenommen und auf diese Weise seinen Ruhm als Klassiker der abstrakten Malerei gefestigt hatte. Diese Vorgeschichte zur Ausstellung im Kunsthaus präsentiert eine parallel zu sehende Kabinettausstellung im Museum Wiesbaden. Die sieben Bilder aus den Jahren 1949 bis 1958 sind zusammen mit Arbeiten von Ritschls Freunden Willi Baumeister und Fritz Winter zu sehen. Zweimal – 1955 und 1959 – nahm Ritschl an der Documenta in Kassel teil. Eines der 1955 dort gezeigten Bilder, „Komposition 1954/53“, wird jetzt im Museum präsentiert. 1959 wurde Ritschl übrigens zusammen mit Mark Rothko in Kassel ausgestellt, dessen Bild „o.T.“ (1967) als Dauerleihgabe des Museumsvereins Ritschl zur Sammlung des Museums gehört, mit dem der Verein seit 1994 eine enge Kooperation pflegt. Rothko schätzte Ritschls Arbeiten, wie der Frankfurter Kunstkritiker Peter Iden – der den US-amerikanischen Maler kurz vor dessen Tod in New York traf – in einem aufschlussreichen Artikel zu berichten weiß, der anlässlich der Kunsthaus-Ausstellung erschienen ist.

Im Museum sind neben dem Ritschl-Raum die Werke aus den letzten Jahren Alexej von Jawlenskys ausgestellt, der ebenfalls mit dem zwanzig Jahre jüngeren Maler befreundet war. Als Ritschl Mitte der 30er Jahre zu ihm kam und mit Blick auf die nationalsozialistische Kunstpolitik an seiner Berufung zum Künstler zweifelte, antwortete ihm der berühmte ältere Freund: „Oh, Herr Ritschl, Sie sind schon bekannt – es weiß nur noch keiner!“ 90 Jahre später wird die aktuelle Ausstellung dazu beitragen, dass Ritschl nicht nur bekannt ist, sondern endlich auch jeder davon weiß.
Nikolas Jacobs