Die Magie der alltäglichen Dinge
Ziehen Sie die Schuhe aus und betreten die Welt von Alison Knowles
Ein großer Kasten steht in der Ausstellung auf dem Boden, allerdings ist er nicht mit Sand, sondern mit kleinen weißen Kugeln gefüllt – Bohnen. Das ist die erste Überraschung, und die zweite ist noch unverhoffter – man kann als Besucher hier wirklich die Kunst mit Füßen treten. Schuhe ausziehen und hinein ins Vergnügen!
Laut raschelt und rieselt es im Museum, denn unter dem Kasten eingebaute Lautsprecher verstärken den Sound. Es ist ein wohliges Gefühl, sanft umschmeicheln die Bohnen die Fußgelenke und unwillkürlich erinnere ich mich an weichen Sand am Strand oder Wellen. Ob Alison Knowles die gleiche Assoziation hat? Das wissen wir nicht. Die Künstlerin, heute 91 Jahre alt, konnte zur Eröffnung der Ausstellung nicht kommen. Aber muss man sich nicht auch ein kleines Stück Kindsein bewahrt haben, um ein solches Kunstwerk zu schaffen?
„Bohnen klingen nicht alle gleich“ hat Allison Knowles ihr Werk und die dazugehörige Performance 2023 betitelt. Bei Performances werde ich von Objekten wegen ihres Klanges angezogen. Mein Orchester besteht aus Bohnen, Spielzeug, Papier und Wörtern … Jedes Instrument kommt aus der Stille, führt seinen Auftritt durch und kehrt wieder in die Stille zurück.
Die Künstlerin arbeitet gerne mit Hülsenfrüchten, also sogenannten unedlen Materialien, handelt es sich doch nur um Lebensmittel. Aber hat nicht Joseph Beuys Fett museumswürdig gemacht?
Alison Knowles ist die erste (bisher bekannte) Künstlerin, die mit Lebensmitteln Kunst macht. Bereits in den 1960er Jahren entstanden erste Arbeiten mit Bohnen und gefundenen Gegenständen. Ach ja – sofort kommen mir da Daniel Spoerri und Marcel Duchamp in den Sinn. Nicht ohne Grund: Spoerri, der Schweizer Künstler, der in seinen Tableaux pièges schon 1960 Reste von Mahlzeiten konservierte, war auch Mitglied der Fluxus Bewegung. Und Marcel Duchamp, der französische Künstler, der 1913 ein Fahrrad als kunstwürdig vorstellte, ist jener, der gefundene Objekte Gemälden gleichsetzte, Alltagsgegenstände zu Kunstobjekten erhob. Übrigens emigrierte Duchamp während des Zweiten Weltkriegs nach Amerika und Alison Knowles kannte mit Sicherheit seine Werke. Eine kleine Hommage an Marcel Duchamp ist die Arbeit „Say la Vie“ von 2008. Duchamp hat das Pseudonym Rrose Sélavy verwendet, einige seiner Werke mit diesem Namen gekennzeichnet. Der Name bedeutet in französischer Aussprache der Buchstabenfolge „Eros, c’est la vie“ („Eros, das ist das Leben“). Alison Knowles allerdings bezieht sich auf den Alltag ohne Eros mit Näh- und Flickwerk, Sehhilfe und Wattepads.
Den Spirit von Fluxus hat Alison Knowles früh aufgesogen. Sie ging schon Ende der 1950er Jahre mit John Cage und ihrem Ehemann Dick Higgins Pilze sammeln und dabei soll John Cage, der große Fluxus-Protagonist, seine Ansichten kundgetan haben.
Überhaupt Fluxus – was ist das? Zuerst einmal eine Bewegung, die es bis heute gibt. Als die Popart in den USA ihren Siegeszug antrat, konterkarierte Fluxus in Europa den Massenkonsum, pfiff auf brave Bürgertugenden und lud ein zu kollektiven Kunstperformances. Ob in Düsseldorf Joseph Beuys und Otto Piene, in Paris die nouveau realiste oder in Köln Mary Bauermeister – überall in der Kunstszene schockten Künstler das Publikum mit experimenteller Musik und Aktionskunst. In Wiesbaden saß damals das Headquarter der US-Streitkräfte und im Rhein-Main-Gebiet sammelten sich Künstler wie Ben Patterson, Nam June Paik, Wolf Vostell und Emmett Williams. Antikunst war angesagt, Fluxus stand für jegliche Grenzüberschreitung und vereinte alle klassischen Kunstgattungen. Lyrik, Theater, Musik, Kunst und Film fanden in Happenings zu neuen Verbindungen.
Angefangen hat alles allerdings fast harmlos. Maciunas, ein in New York lebender Litauer, kreierte den Namen Fluxus 1960 als Titel für eine Kunstzeitschrift. Und eben jener George Maciunas hat beim Wiesbadener Museumsdirektor 1962 ganz höflich angefragt, ob es eine Möglichkeit gäbe im Museum Festspiele Neuester Musik durchzuführen. Im September standen dann fünf Männer in seriösen Anzügen auf der Bühne in Wiesbaden. Mit Hämmern und Pflastersteinen zertrümmerten sie einen Flügel. Es folgte ein wildes Festival mit Aktionskunst, ein Fanal der Fluxus Bewegung.
Und mit dabei war Alison Knowles, 29 Jahre alt. Zwar war die amerikanische Künstlerin nicht selbst eingeladen, sondern nur in Begleitung ihres Mannes Dick Higgins angereist, aber sie machte eifrig mit – als einzige Frau des Fluxus Festivals rasierte sie ihrem Ehemann öffentlich den Kopf. Dazu gibt es natürlich zahlreiche hintergründige Deutungsvorschläge …
Alison Knowles versucht zeitlebens Alltag und Kunst zu verschränken und ihre Arbeiten gehen weit über die Idee von Fluxus hinaus. Sie will unserer aller Aufmerksamkeit für ganz alltägliche Dinge wie Essen, Musizieren oder das tagtägliche Einerlei.
Die am 29.April 1933 in New York geborene Knowles studierte zunächst Französisch, später Malerei und Druckgrafik. Nach ihrem Abschluss 1956 zog sie in ein Loft in Soho, ein melting point für Kunstschaffende aller Couleur. Hier lernt sie auch ihren späteren Ehemann Dick Higgins kennen, der bei John Cage studierte. Knowles erinnerte sich später: „Ich war nicht in [Cages] Unterricht, meine Verbindung kam durch Dick Higgins zustande, aber die Mechanismen und Strukturen, die in diesem Unterricht besprochen wurden, halfen mir, den reißenden Fängen des Abstrakten Expressionismus zu entkommen“.
So sammelte Alison Knowles überall Dinge, die weggeworfen wurden oder Naturmaterialien, lagerte sie in einem Depot und irgendwann macht sie daraus neue Objekte. Schon 1962 schuf sie Big Books, das sind riesige Assemblagen, die zwar Büchern ähneln, aber auch eine ganze Wohnung sein könnten – durften sich die Betrachter doch darin bewegen und Seiten umschlagen, um in ein neues Zimmer zu gelangen. In Wiesbaden ist ein Boot Book von 2014 zu sehen. Im Fingerbook III von 1976 verquickt die Künstlerin Brailleschrift auf einer Metallplatte mit Muscheln, Knöpfen, asiatischen Schriftzeichen und einer Flöte.
Alison Knowles schafft mit ihren Arbeiten eine neue Sinnlichkeit für Alltägliches und Banales. Ausgehend vom Zeitgeist der 1950er und 60er Jahre, der die Kunst hinterfragt hat – wie funktioniert sie? Wo findet sie statt? Wer macht sie? Wer entscheidet, was kunstwürdig ist? – ausgehend von diesen Fragestellungen hat Alison Knowles versucht eigene Antworten zu geben. An ihren Arbeiten darf sich jeder erfreuen, er darf schmunzeln, die Stirn runzeln oder sie schlicht zum Nonsens erklären. 2003 sagte sie selbst: Ich möchte nicht, dass die Kunst jemals stillsteht, fertig ist … Ich möchte, dass sie jemandem zur Verfügung steht, der etwas anderes damit machen kann … etwas, woran ich nicht gedacht hätte.
Die Kunst von Alison Knowles hat nichts Dogmatisches, sie lebt! Und die Werke gehen weit über die Fluxus Bewegung von 1962 hinaus. Am besten hat Dick Higgins, der Ehemann von Knowles, sie einmal beschrieben: Alison Knowles war die einzige Künstlerin, die an den ursprünglichen [1962–63] Fluxus-Festivals teilnahm; aber ihre Performance-Arbeiten nur mit dem Begriff Fluxus zu beschreiben, ist so, als würde man einen Elefanten nur mit seinem Rüssel beschreiben – ein wichtiger und einzigartiger Teil des Tieres, aber es vernachlässigt den Rest des Körpers. In der Tat ist sie das Bindeglied zwischen Fluxus und Performance Art.
Martina Caroline Conrad