Ein Leuchtfeuer für Wiesbaden

Die Sammlung Kirchhoff

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die deutsche Kunstlandschaft vom „Geist der Moderne“ ergriffen. Weltweit war eine Aufbruchsstimmung zu spüren. Allerorts schlossen sich Künstler zusammen, sie formierten sich in Ausstellungsgemeinschaften oder Sezessionen wie der „Brücke“ oder der Gruppe „Blauer Reiter“. Die Kunst sollte von ihren Fesseln befreit werden, unkonventionell galt als Avantgarde. Auch in der kaiserlich geprägten Kurstadt Wiesbaden gab es reformerische Bewegungen, die nach junger Kunst für ein junges Museum und für eine neue Gesellschaft riefen. Allerdings fehlte es den öffentlichen Stellen an Geld und Handhabe, denn sie waren an die kaiserlich konservative Kulturpolitik gebunden. Was man brauchte war ein Mäzen: einen privaten Förderer der modernen Kunstbestrebungen, der durch sein Vermögen einen sehr viel größeren Handlungsspielraum besaß als die öffentlichen Institutionen.

Inmitten dieser Zeit, genauer zwischen 1914 und 1934, baute der zugezogene Essener Privatier Heinrich Kirchhoff (1874–1934) eine bedeutende Kunstsammlung auf, die in kürzester Zeit über die Grenzen der kaiserlichen Kurstadt Wiesbaden hinaus internationale Beachtung erfuhr. Die auf über 800 Werke geschätzte Kollektion gehörte zu den größten Privatsammlungen moderner Kunst ihrer Zeit und wurde von ihrem kritischen Besitzer ständig erneuert und erweitert. Neben Künstlern des deutschen Impressionismus – wie Max Liebermann, Lovis Corinth oder Max Slevogt – lag der Sammlungsschwerpunkt vor allem auf der expressionistischen Kunst, die eindrucksvoll durch Künstler wie George Grosz, Erich Heckel, Alexej Jawlensky, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc oder Emil Nolde repräsentiert wurde. Zu den bekannten Hauptwerken zählten beispielsweise Gemälde wie das Triptychon zur „Maria Ägyptiaca“ von Emil Nolde, „Der Gläserne Tag“ von Erich Heckel, „Turandot II“ von Alexej Jawlensky, „Die Wölfe“ von Franz Marc und „Widmung an Oskar Panizza“ von George Grosz.

Oskar Kokoschka „Die Geschwister“, 1914, Öl auf Leinwand; Oskar Kokoschka © Fondation Oskar Kokoschka / VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Oskar Kokoschka „Die Geschwister“, 1914, Öl auf Leinwand; Oskar Kokoschka © Fondation Oskar Kokoschka / VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Kirchhoffs Engagement für die Moderne war geprägt von wiederholten Ausstellungen seiner Sammlung und der bereitwilligen Leihgabe seiner Werke für nationale und internationale Expositionen. So konnte die Sammlung mit Verweis auf ihren Urheber und die Stadt Wiesbaden nicht nur in der unmittelbaren Umgebung wie Frankfurt, Mannheim oder Darmstadt gesehen, sondern bald auch in Dresden, Berlin, Essen, Zürich, Paris oder Venedig betrachtet werden. In der Wiesbadener Gemäldegalerie, die ab 1915 im neueröffneten Museumsbau untergebracht war, füllten seine Kunstwerke schließlich dauerhaft die leeren Säle und stellten damit den Grundstock der expressionistischen und frühen abstrakten Kunst vor Ort.

Die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst führte Kirchhoff darüber hinaus zum unmittelbaren Kontakt mit den Künstlern. Unter ihnen erwählte er sich junge Maler, die sich mit ihrem Herzblut der jungen expressionistischen Kunst verschrieben hatten und noch am Beginn ihrer Karriere standen. Ihnen fehlten einerseits die finanziellen Mittel, um sich sorgenfrei ihrer Kunst zuwenden zu können, und andererseits waren sie und ihre Werke in der Kunstwelt bislang kaum bekannt. Die finanzielle Hilfe durch Käufe und Stipendien ermöglichte es ihnen, sich auf die Kunst zu konzentrieren. Die Ausstellung ihrer Werke, aber auch der Name der Sammlung, in der sie nun vertreten waren, und das Netzwerk, in das sie Aufnahme erhielten, halfen ihnen, sich auf dem Kunstmarkt zunehmend zu behaupten. Mitunter entwickelten sich daraus enge und langjährige Freundschaften, wie diese zu Conrad Felixmüller oder Alexej Jawlensky.

Walter Jacob „Die Familie Kirchhoff“, 1920, Öl auf Leinwand (Foto: Museum Wiesbaden/ Bernd Fickert)
Walter Jacob „Die Familie Kirchhoff“, 1920, Öl auf Leinwand (Foto: Museum Wiesbaden/ Bernd Fickert)

Die Villa Kirchhoffs avancierte innerhalb kürzester Zeit zum gesellschaftlichen und kulturellen Treffpunkt der deutschen Kulturszene, wovon das erhaltene Gästebuch zeugt. Auf diese Weise entstand ein produktives Netzwerk, das als eigentlicher Motor der Avantgarde verstanden werden muss. Während der Weimarer Republik schlossen sich über dieses Netzwerk Förderer der Moderne zu kleinen eingeschworenen Mitgliederkreisen zusammen, um Künstler wie Paul Klee oder Wassily Kandinsky in den Inflationsjahren vor dem Ruin zu bewahren und ihre Kunst weiter zu verbreiten.

Kirchhoffs Einsatz für die Avantgarde fand jedoch noch zu Beginn der nationalsozialistischen Ära ein jähes Ende. 1933 wurde die Sammlung aus der Wiesbadener Gemäldegalerie, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt befand, entfernt und der Familie Kirchhoff zurückgegeben. Heinrich Kirchhoff verstarb ein Jahr später ganz unerwartet mit gerade einmal 60 Jahren. Die politischen Ereignisse, aber auch die familiären Schicksalsschläge trugen dazu bei, dass die Sammlung durch die Familie schrittweise aufgelöst werden musste. Unter der totalitären Kunstpolitik des Nationalsozialismus gerieten Kirchhoffs Schaffen und sein Verdienst für die nun als „entartet“ gebrandmarkte Moderne in Vergessenheit.

Dr. Sibylle Discher


Dr. Sibylle Discher begann ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Sammlung von Heinrich Kirchhoff im Jahr 2013. Aus dem engen Kontakt mit dem Museum Wiesbaden und ihren Kollegen dort, insbesondere mit Dr. Roman Zieglgänsberger, erwuchs die Idee, die Sammlung Kirchhoff im Rahmen eines Ausstellungsprojektes noch einmal zusammenzutragen und zu visualisieren. Von 2015 bis 2017 erfolgte die Umsetzung dann durch das Kuratorenteam Roman Zieglgänsberger und Sibylle Discher, die im Rahmen des Projektes ihre Dissertation anfertigte. Diese ist erschienen unter dem Titel „Der Mäzen Heinrich Kirchhoff (1874–1934) und seine Wiesbadener Kunstsammlung“. Herausgeber der Dissertationsschrift ist das Museum Wiesbaden, wo diese zum Preis von 24 Euro erhältlich ist.

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