Ein tröstender Rückblick

Roman Zieglgänsberger über die Werkgruppe Meditationen des Künstlers Alexej von Jawlensky

Jawlensky malt Meditationen in Wiesbaden, um 1935

Alexej von Jawlensky, der ein tief religiöser Mensch war, lebte 20 Jahre – von 1921 bis zu seinem Tod 1941 – in Wiesbaden und schuf hier mit den Abstrakten Köpfen seine bedeutendste und mit den Meditationen seine berührendste Serie.

Der Kunsthistoriker Werner Haftmann fand bald nach dem Zweiten Weltkrieg für diese Serien, in denen Jawlensky das menschliche Antlitz in hoch konzentrierter, spiritueller Form zu erfassen vermochte, das schöne Bild der „modernen Ikone“. „Wie die Perlen eines Rosenkranzes“, so Haftmann, „mehr betend als malend“, entstand zwischen 1934 und 1937 eine Meditation nach der anderen. Am Ende sollten es etwa 1.000 Arbeiten werden, die vor der vollständigen Lähmung auf diese Weise teils unter großen Schmerzen geschaffen wurden. Mit ihnen verabschiedete sich diese durch und durch europäische Künstlerpersönlichkeit, die der deutschen Kunst­geschichte so viel hinzugefügt hat, von unserer Welt.

Alexej von Jawlensky, Abstrakter Kopf: Rot – Weiß – Gold, 1927, Museum Wiesbaden

Eine frühe prägende Erfahrung Alexej von Jawlenskys, der 1864 in Torschok – etwa 260 Kilometer nordwestlich von Moskau – das Licht der Welt erblickte, war die theatralische Erscheinung einer mit Gold, Korallen und Perlmutt dekorierten Madonnen-Ikone, die er als Neunjähriger in Aschenstowo mit seinen Eltern erlebte, und die er nie wieder vergessen sollte. Vier Jahre vor seinem Tod, 1937, als er schon vier Jahre seine Meditationen malte, berichtet er von dieser ersten entscheidenden Begegnung mit dem spirituellen Mysterium der Kunst in seinen Lebenserinnerungen. Jawlensky schließt demnach mit seinen sechzig Jahre später entstandenen modernen Andachtsbildern den Kreis des Lebens: Er führt das „A“ und das „O“, Anfang und Ende, Geburt und Tod in einem durchaus abendländischen Sinne zusammen.

Alexej von Jawlensky, Meditation: Erinnerung an meine kranken Hände, 1934, Museum Wiesbaden

Nach einem ausgefüllten künstle­rischen Leben, das Jawlensky in seinen wichtigsten Stationen von Sankt Petersburg (1890–1896) über München (1896–1914) und Ascona (1918–1921) nach Wiesbaden führte, sieht sich hier der bis dahin sehr erfolgreiche Maler 1929 plötzlich mit der Diagnose Arthritis deformens konfrontiert: Erste Lähmungs­erscheinungen an Händen und Kniegelenken treten auf. Spätestens um 1933/34 lässt sich dies nicht mehr ignorieren oder als temporäre Krankheit abtun; der Künstler wird sich plötzlich seines unaufhaltsamen körperlichen Verfalls bewusst und malt Bilder wie Erinnerung an meine kranken Hände, eine der ersten Meditationen. Der harmonisch-ideale Dualismus von Körper und Geist, an den er fest glaubte und den er in den Abstrakten Köpfen bis dahin auch gefeiert hatte, war sichtlich ins Ungleich­gewicht geraten, was zur Folge hatte, dass sich erstmals überhaupt in seinem Leben seine Kunst seinen körperlichen Möglichkeiten anpassen musste.

Dies hatte zur Folge, dass seine Werke kleiner wurden. Durch das neue konzentriertere Format – manche von ihnen sind kaum größer als eine Postkarte – zwingt uns der Künstler, näher heranzu­treten. Die stets geschlossenen Augen, der gleichmäßige Takt des ruhig gezogenen Pinselstrichs, mit dem Jawlensky sein eigenes Ein- und Ausatmen sowie den Rhythmus seines Herzschlags in die Bilder einbringt, und die dunkle, sonor nachhallende Tiefe der Farbe lassen die Grenze zwischen dem Betrachter und diesen durch und durch meditativen Arbeiten verschwimmen. Gänzlich verschwunden ist das konstruktive Gerüst der Abstrakten Köpfe, die den Körper noch stabilisierten; übrig geblieben ist allein die glühende Farbe, die den Geist – die Seele des Menschen – aufnimmt. Dass sich der Mensch am Ende auflöst und nach einem kurzen Augenblick, angestrahlt im Hellen, zurück in die Dunkelheit des ewigen Urgrundes eintaucht, so als ob er allmählich verglüht und in veränderter Form in eine andere Welt eintaucht, darauf deuten authentische Bildtitel einiger Meditationen wie Verhaltene Glut oder Mein Geist wird weiterleben hin.

Alexej von Jawlensky, Meditationen: Mein Geist wird weiterleben, 1935, Museum Wiesbaden
Alexej von Jawlensky, Meditationen: Rückblick, 1935, Museum Wiesbaden

In einem Brief an Emil Nolde beschreibt der Künstler seine eingeschränkte Lebenssituation, die unmittelbaren Ausdruck in seiner Kunst findet, dann auch sehr eindringlich mit eigenen Worten: „Ich lebe die ganze Zeit nur in meinem Zimmer, komme nirgends hin, kann nicht gehen, sitze vor der Staffelei, die Palette auf den Knien, Pinsel haltend mit zwei Händen und arbeite mit brennendem Gefühl diese kleinen Bildchen und auch etwas größere, ich meditiere, es ist wie ein Gebet. Ich leide sehr, wenn ich arbeite, meine Ellbogen und Hände schmerzen unendlich, bin oft erschöpft und sitze mit Pinsel in Hand, halb ohnmächtig. Und ich arbeite den ganzen Tag und niemand versteht, was ich male. Traurig, aber das ist mein Leben.“

In diesen stillen Arbeiten, in denen der Künstler sein Lebenswerk nicht nur konzentriert zusammenfasst, sondern auch bewusst abschließt, gelingt es dem geistig völlig gesunden Jawlensky seinen individuell wahrgenommenen körperlichen Verfall unpathetisch ins Allgemeine zu transferieren. Der ikonische Rückblick ist dabei zugleich auch ein Blick nach vorne, auf das, was einen in „anderer Welt“ erwartet, wie Jawlensky 1936 sehr tröstlich an seine langjährige Freundin Galka Scheyer schreibt.

Roman Zieglgänsberger

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