Entdeckungstour – Paradies (Teil 3)

Zwischen Mensch und Tier

August Macke (1887–1914) und Franz Marc (1880–1916) gelten als eine der größten Künstlerfreundschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts. Beide Maler, die so vieles verbindet, waren der harte Kern des „Blauen Reiters“ und zählen damit zu den „Machern“ des Expressionismus in Deutschland. Anders als viele andere Künstlerinnen und Künstler waren sie schon allein damit nicht bloße „Erfolgsbegleiter“, die den Windschatten eines Zuges, auf den man lediglich aufspringt, auszunutzen wussten, sondern regelrechte „Erfolgsmenschen“, die das Rad der Kunstgeschichte tatsächlich ein stückweit weitergedreht haben.
Obwohl Macke und Marc ab 1910, als sie sich in München kennengelernt hatten, aufs engste miteinander befreundet waren und sich künstlerisch sehr nah standen, so waren sie doch in einem inhaltlichen Punkt sehr weit voneinander entfernt – und zwar in der Frage, ob der Mensch zur Natur und damit ins Paradies gehört, oder, ob der Mensch zur Kultur und damit nicht ins Paradies gehört.

August Macke, Leute bei den Reihern, 1913, Kunstmuseum Bonn (Foto: Kunstmuseum Bonn/Reni Hansen, Wolfgang Morell)

Beantwortet werden kann dies anhand der Tierbilder der beiden Maler. Bei Macke gibt es stets – besonders schön zu sehen in seinen Zoologischen Gärten wie auf dem Bild „Leute bei den Reihern“ – das wohlige Gefühl einer großen Vertrautheit zwischen Mensch und Tier. Dieses rührt daher, dass es innerhalb des Tierparks mit den vielen Besuchern und exotischen Bewohnern keine Grenzen, Zäune, Barrieren zu geben scheint. Alle sind frei und ungezwungen und jeder hat sogar eine/n Partner/in dabei – es ist einfach keiner allein! Der Zoo steht damit in Mackes Universum als pars pro toto für die gesamte Welt, in der es keine Trennung von Natur und Kultur gibt – und ist deshalb als durch und durch paradiesischer Ort zu begreifen.

Franz Marc, der mit ähnlichen künstlerischen Mitteln eine konträr entgegengesetzte kristallin gebrochene Paradiesvision in seinen Bildern entwarf, schrieb in seinem berührenden Nachruf für den am 26. September 1914 an der Westfront des Ersten Weltkriegs gefallenen August Macke: „Wir Maler wissen gut, daß mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die ‚Farbe‘ in der deutschen Kunst um mehrere Tonfolgen verblassen muß und einen stumpferen, trockeneren Ton bekommen wird. Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten Klang gegeben, so klar und hell wie sein ganzes Wesen war.“ Marc selbst hat sehr genau gewusst, dass es ein Paradies, wie es Macke für sich und uns in seinen Bildern programmatisch vorstellte, nicht gibt. Für Marc war immer klar, dass der Mensch nicht zur Natur gehört, sondern − weil sein Verhalten nicht intuitiv, vielmehr durch den Verstand gelenkt wird − eindeutig der Kultur zugerechnet werden muss. Die einzigen Lebewesen, die in einer paradiesischen Sphäre zu verorten und damit tatsächlich ursprünglich sind, waren für ihn die unbewusst von ihren Instinkten geleiteten Tiere. Sie waren es, die im Gegensatz zu den ‚verbildeten‘ Menschen die Unverfälschtheit und Natürlichkeit allen Seins verkörperten. Dabei galt ihm das Pferd, das er immer wieder in den unterschiedlichsten Varianten darstellte, in seiner majestätischen wie romantischen Anmutung als Ideal.

Franz Marc, Die blauen Fohlen, 1913, Kunsthalle Emden – Stiftung Henri und Eske Nannen (Foto: Kunsthalle Emden)

Sehr deutlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, dass es im Werk Franz Marcs sogar Pferde gibt, die ihr Paradies − in dem der Mensch (also wir) nach Ansicht des Künstlers nichts verloren hat − vor uns doch so kultivierten Museumsbesuchern verteidigen. Seine „Blauen Fohlen“ sind ein solches Beispiel. Denn das vordere blaue Tier hat uns, die wir vom ausgelassen-bunten Treiben im Pferdeparadies angezogen worden sind und uns gerne dazugesellen wollten, mit seinem offenen Auge entdeckt und stellt sich uns sogleich grimmig entgegen, indem es uns den Blick und ebenso den Weg mit seinem kraftvoll angespannten Körper hinein ins Paradies, das ja lediglich den Tieren vorbehalten ist, versperrt.

Franz Marc und August Macke, Paradies, 1912, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster (Foto: LWL-MKuK/Hanna Neander)

Diese völlig konträre Weltauffassung der Künstler gipfelte in dem 1912 von ihnen gemeinsam ausgeführten Wandbild „Paradies“. Franz Marc wird seit jeher der „Löwenanteil“ an dem Werk zugeschrieben. Dazu gehören insbesondere die Landschaft, die Tiere sowie die Figur des Adam, während August Macke die orientalische Szene rechts sowie Eva ausgeführt haben soll. Macke mischte folglich seine Figuren direkt unter die Tiere – die Orientalen mit Turban wandeln sich unterhaltend und gleichsam sorglos zwischen Büffel und Reh, derweil sitzt Eva so still da, dass sogar ein scheues Reh an ihren Füßen zu grasen wagt: alles so, als gehörten die Menschen wirklich hinein ins Paradies. Indes stöbert Marcs Adam oben mit seiner Wildheit die Tierwelt auf: Seine ausgesprochen muskulös-energische Rückenfigur greift vehement nach dem kräftigen Ast, zieht damit den gesamten Baum zu sich herunter und sucht, fast möchte man sagen, gewaltsam die Nähe zu dem darauf befindlichen Affen, dessen Gefolge ob des ungewöhnlichen menschlichen Verhaltens höchst aufgebracht – nicht nur jetzt, sondern vermutlich für alle Zukunft – größtmöglichen Abstand wahrt.

Bleibt nur zu hoffen, dass wir möglichst bald wieder ohne „größtmöglichen Abstand“ vor den unbeschwerten paradiesischen Bildern August Mackes in unserem Museum Wiesbaden Kulturluft atmen dürfen. Übrigens kündigt der Freundeskreis in seinem Halbjahresprogramm einen Vortrag am 21. Januar 2021 mit Dr. Annegret Hoberg, Sammlungskuratorin für den „Blauen Reiter“ am Lenbachhaus München, an. In dessen Mittelpunkt wird die „Künstlerfreundschaft Macke und Marc“ stehen. Bleibt zu hoffen, dass uns die Pandemie diesen spannenden Vortrag nicht auch noch wegnimmt.

Roman Zieglgänsberger


Dr. Roman Zieglgänsberger ist Kustos Klassische Moderne im Museum Wiesbaden. Lesen Sie auch das Interview mit ihm zur Ausstellung „August Macke. Paradies! Paradies?“

 

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