Alles! auf Entdeckungstour (Teil 2)

Behind the Scenes – ein Blick hinter das „Früchtestillleben“

Alexej von Jawlensky, Früchtestillleben, um 1930, Museum Wiesbaden (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Die derzeitige Sonderausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ zeigt nicht nur zum ersten Mal den gesamten Jawlensky-Bestand des Hauses, sondern offenbart darüber hinaus die Rückseiten dreier ausgewählter Werke. Einen Blick hinter die Kulissen gewähren die Gemälde „Blaue Berge“, das „Selbstporträt“ und das „Früchtestillleben“, sicher eingefasst in für die freistehende Präsentation konzipierten Rahmen-Sockel-Kombinationen der Restaurierung und Werkstatt des Museums. Es werden damit jene Geschichten der Öffentlichkeit preisgegeben und erfahrbar gestaltet, die vermeintlich in erster Linie rein für die Forschung interessant sind. Gleichzeitig gewinnen jedoch auch unsere Besucherinnen und Besucher neue Perspektiven auf die künstlerische Vorgehensweise Alexej von Jawlenskys.

Und so ist zwar allseits bekannt, dass das 1998 erworbene „Früchtestillleben“ in herbstlich Tönen eine Obstschale voller Birnen zeigt, doch offenbart sich mit Blick auf die Rückseite des Kartons, dass der Träger des Stilllebens bereits eine lang zurückliegende, ganz eigene Historie hat: Zu sehen ist ein junges Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt, das auf der Rückseite des Bildes, sozusagen „im Schatten der Birnen“, ein bisher vor der Besucherin oder des Besuchers verborgenes Dasein gefristet hat. Wie kam es dazu?

Blick in die Ausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

„An Ihre Mutter wollte ich ein Stilleben schicken, welche [sic] ich sehr fein finde, aber ich bin nicht sicher ob dies gefallen wird“, so das Original-Zitat Jawlenskys in einem Brief Ende 1930 an seine Unterstützerin Hanna Bekker vom Rath. Ihre Mutter Maximiliane, ebenfalls mit dem Künstler gut bekannt, engagierte sich wie ihre Tochter im Kreis der Vereinigung der Freunde der Kunst Alexej von Jawlenskys. Nur wenig später, im Januar 1931, wurde das „Früchtestillleben“ an Maximiliane von Rath übergeben und große Begeisterung darüber bekundet. Jawlensky, der zu diesem Zeitpunkt bereits an seiner Arthrose-Erkrankung litt, wenige Bildverkäufe und damit einhergehend geringe Einnahmen verzeichnen konnte, zeigte sich sehr erfreut, dass sie ihm aus Dankbarkeit im Gegenzug helfen wollte. Bereits seit 1929 war sie eingetragene „Freundin“ der von der Tochter gegründeten Vereinigung, eine Mitgliedschaft, in der jedes Mitglied Werke des Künstlers erhalten konnte. Es ist wahrscheinlich, dass zum Jahreswechsel 1930/31 Maximiliane von Rath für ihre Unterstützung des Künstlers von ihm mit dem „Früchtestillleben“ beschenkt wurde. Zudem war es natürlich im Sinne Jawlenskys, wichtige Unterstützerinnen weiter an die Vereinigung zu binden, so schrieb er: „Ich möchte natürlich, dass Ihre Frau Mutter noch weiter in ‚Jawlensky Gesellschaft‘ bleibt, aber liebe Hanna Sie allein das machen können.“

Da er Frau vom Rath vermutlich ein aktuelles Stillleben schenken wollte, selbst aber kein Geld hatte für einen neuen Karton, drehte er das Bild, auf dem er das Mädchen zwanzig Jahre zuvor gemalt hatte, einfach hierfür um. Vermutlich im ursprünglichen Maß von 64 x 48 cm – und damit ein Hochformat –, beschnitt Jawlensky das ehemalige Porträt auf das heutige Maß von 32 x 47,8 cm, wendete das Bild und nutzte die freie, nun querformatige, Fläche, als Träger des neuen „Früchtestilllebens“. Zurück blieb bis heute auf seiner Rückseite, eigentlich auf dem Kopf stehend, der Blick auf das schüchtern zum linken Bildrand blickende Mädchen, das in seinem roten Kleid und in blau gepunkteter Bluse auf einem Korbstuhl – womöglich der Firma Thonet? – vor strahlend blauem Grund sitzt. Stilistisch an Nikita erinnernd, vor allem durch den leicht grünlichen Unterton des Inkarnats, ist es heute ein Porträt, das definitiv als verworfen gilt und nicht mehr öffentlich präsentiert werden sollte: Beschriftungen zum Motiv der heutigen Schauseite wurden vom Künstler an den hellsten Stellen der Leinwand, dem Gesicht des Mädchens, markiert und entwerten damit das Porträt für zukünftige, öffentliche Präsentationen.

Alexej von Jawlensky, entwertetes Mädchenbildnis (Rückseite von „Früchtestillleben“), um 1910, Museum Wiesbaden (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Ganz im Gegensatz zu vergleichbaren Gemälden, die vom Künstler ebenfalls beidseitig bemalt wurden, stellte Jawlensky damit eindeutig sicher, dass das Werk nicht mehr zu seinem Schaffen zählt. Es gehört damit auch nicht zu jenen Werken, bei welchen die Leinwand im Nachgang nach Autorisierung durch Alexej von Jawlensky selbst sorgsam von Restauratorinnen und Restauratoren getrennt wurden – wie beispielsweise „Nikita“ und dem sich ehemals darauf rückseitig befindenden „Stillleben mit gelber Decke“. Und so ist das Bild des Mädchens kein eigenständiges Werk, sondern nur ein Fragment eines verworfenen, vermutlich um 1910 entstandenen Porträts.

Doch wieso musste das Mädchen weichen? Möglich wäre eine bestehende Materialknappheit oder der Gedanke, dass ein Porträt in expressiven Farben wohl zum Zeitpunkt um 1930 weniger geschätzt werden würde als ein unverfängliches Früchtestillleben. Vielleicht handelte es sich aber auch um den verworfenen Ansatz eines Porträts, um ein Werk, das am unteren Rand beschädigt wurde, oder ein Motiv, das Jawlensky schlicht und ergreifend nicht mehr mochte. Letztliche Hinweise, die auf der unteren Hälfte des recycelten Porträts womöglich erkennbar wären, lassen sich heute aufgrund des unbekannten Standorts der unteren Bildhälfte nicht nachweisen. Und so ist die Geschichte um das Mädchen auf der Rückseite des Früchtestilllebens zum jetzigen Status nicht gänzlich zu klären, was sich jedoch mit dem Fund des unteren Bildteils ändern könnte. Daran anschließend, würden sich dann spannende neue Fragestellungen für die Forschung und Aufarbeitung der Kunst Alexej von Jawlenskys ergeben.

Weitere Angaben zur Provenienz und Ausstellungshistorie zum „Früchtestillleben“ können dem aktuellen Ausstellungskatalog/Bestandskatalog entnommen werden (Nr. 89, S. 300). Viel Spaß bei der Lektüre!

Jana Dennhard

Jana Dennhard ist derzeit wissenschaftliche Volontärin der Abteilung Kunst. Sie hat für die Freunde-Website bereits einen interessanten Beitrag in der Rubrik Entdeckungstouren zur Jawlensky-Förderin Mela Escherich verfasst.

 

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