Eva Hesse im Museum Wiesbaden

Von den Anfängen bis heute

Liebe Freundinnen und Freunde des Museums Wiesbaden,

meine erste Begegnung mit der Kunst von Eva Hesse geht auf das Jahr 1984 zurück. In der Düsseldorfer Ausstellung „Von hier aus“ war damals die Skulptur „Accession III“ zu sehen – eine nach oben offene Glasfaserbox, durch deren Wände hindurch Eva Hesse hunderte und aber hunderte Kunststoffschläuche gezogen hatte, sodass die Innenseiten wirkten, als seien sie mit Pelz überzogen.

Eva Hesse, Blick in die Ausstellung „Chain Polymers“ in der Fischbach Gallery, New York 1968, im Vordergrund die Arbeit „Accession III“; Eva Hesse Estate
Eva Hesse, Blick in die Ausstellung „Chain Polymers“ in der Fischbach Gallery, New York 1968, im Vordergrund die Arbeit „Accession III“; Eva Hesse Estate

Eine faszinierende Höhle, die an eine ins Riesige vergrößerte, geometrische Variante der legendären Pelztasse von Meret Oppenheim erinnert und den Wunsch auslöst, den Kunststoffpelz mit den Händen zu berühren, ihn zu streicheln oder gar in das Innere der Box hineinzusteigen.

Eva Hesse, Accession III, 1968, Glasfaser, Polyesterharz, Kunststoff (Detail); Eva Hesse Estate
Eva Hesse, Accession III, 1968, Glasfaser, Polyesterharz, Kunststoff (Detail); Eva Hesse Estate

Als ich bei meinem Besuch der Ausstellung diese Arbeit erblickte, beschloss ich, der im Jahre 1970 verstorbenen Künstlerin künftig einen Teil meiner Aufmerksamkeit zu widmen.

Nur wenige Jahre zuvor hatte sich Eva Hesse durch die exzentrischen Widersprüche ihrer Kunst und durch die Art und Weise, in der sie ihren künstlerischen Materialien Glasfaser, Latex und Polyester erlaubte, die Gestalt eines Werkes selbst zu bestimmen, fast aus dem Nichts heraus an die Spitze der New Yorker Kunstszene katapultiert.

Im Museum Wiesbaden waren ihre Arbeiten erstmals 1990 zu sehen. In der von dem damaligen Direktor Volker Rattemeyer gemeinsam mit mir eingerichteten Ausstellung „Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts“ wurde ihren Skulpturen, Gemälden und Zeichnungen ein eigener Raum gewidmet. Die bei dieser Ausstellung entstandene Freundschaft zu Eva Hesses Schwester Helen Hesse Charash und ihrem Art Director Barry Rosen hatte zur Folge, dass zu damals noch sensationell günstigen Preisen mit dem Aufbau einer Sammlung begonnen werden konnte, die heute zu den bedeutendsten europäischen Eva-Hesse-Sammlungen gehört.

Nach kurzer Zeit reifte der Plan einer großen Retrospektive, die im Jahre 2002 gemeinsam mit dem San Francisco Museum of Modern Art und der Tate Modern auch tatsächlich realisiert werden konnte. Im Museum Wiesbaden zog diese Ausstellung ein großes internationales Publikum an. Von der amerikanischen Sektion des internationalen Kunstkritikerverbandes AICA erhielt sie die Auszeichnung „Beste monographische Ausstellung des Jahres 2002 außerhalb von New York“.

Gemeinsam mit dem Nachlass von Eva Hesse wurden frühzeitig auch erste Schritte zur Erarbeitung eines Catalogue Raisonné eingeleitet. Die beiden Bände mit den Verzeichnissen ihrer Gemälde und ihrer Skulpturen erschienen im Jahre 2006 in Zusammenarbeit zwischen dem Museum Wiesbaden, dem Eva Hesse Estate und der Yale University Press und gelten heute weltweit als Standardquelle für die wissenschaftliche Erforschung ihrer künstlerischen Arbeit.

Für das Verzeichnis von Eva Hesses Arbeiten auf Papier mit seinen mehr als 1.000 Zeichnungen, Skizzen und Druckgraphiken waren umfangreiche weitere Recherchen erforderlich, darunter auch mehrfache Reisen zum Allen Memorial Art Museum in Oberlin/Ohio, wo etwa ein Drittel von Eva Hesses Zeichnungen als Schenkung ihrer Schwester sorgfältig verwahrt wird. Der Catalogue Raisonné von Eva Hesses gesamtem zeichnerischen Werk wird voraussichtlich im Jahre 2020, also 50 Jahre nach ihrem Tod, online gehen.

Eva Hesse, No title, 1967, Tusche und Graphit auf perforiertem Notizpapier (Skizze für Accession III); Eva Hesse Estate
Eva Hesse, No title, 1967, Tusche und Graphit auf perforiertem Notizpapier
(Skizze für Accession III); Eva Hesse Estate

Es ist eine wunderbare Idee von Barry Rosen, die Sammlung des Allen Memorial Art Museum ein Jahr zuvor in einer gesonderten Ausstellung mit opulentem Katalog ebenfalls öffentlich vorzustellen – in Wiesbaden, Wien, New York und im Allen Memorial Art Museum Oberlin selbst.

Die Ausstellung dieser Sammlung macht nicht nur deutlich, dass Eva Hesse neben ihren Skulpturen bahnbrechende Arbeiten auch im Bereich der Zeichnung geschaffen hat.

Sie zeigt zugleich, wie wichtig die Zeichnung für die Künstlerin in den 1960er Jahren als Medium des Entwurfs für ihre Gemälde und ihre Skulpturen geworden ist.

Vor allem aber verdeutlicht die Ausstellung, dass Eva Hesse der jeweils von ihr gewählten Technik auch im Medium der Zeichnung ganz eigene Freiheiten zugestand. Das zeigt sich etwa daran, wie sie beispielsweise während ihres Studiums den unterschiedlichen Eigenschaften einer Bleistiftlinie, eines Tuscheauftrags oder dem Farbverlauf einer Gouache nachspürt, wie sie später die écriture automatique der französischen Surrealisten in die eigene Arbeit überträgt oder wie sie den Zufall darüber bestimmen lässt, wo und wie einzelne Elemente ihrer Collagen die ihnen zugehörige Stelle in einer Gesamtkomposition finden.

Ich freue mich sehr darauf, über diese und weitere Gedanken zum zeichnerischen Werk von Eva Hesse am Donnerstag, 25. April, anlässlich meines an diesem Tage geplanten Vortrags mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.

Renate Petzinger, Hamburg, im März 2019


Dr. Renate Petzinger (*1943) war von 1990 bis 2005 Kustodin und Oberkustodin beim Museum Wiesbaden und von 2006 bis 2009 dessen stellvertretende Direktorin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehörte unter anderem die Betreuung von Werkverzeichnissen herausragender Künstlerinnen und Künstler, die auf eine Teilnahme an der Kasseler documenta zurückblicken können (z.B. Jochen Gerz, Eva Hesse, Ilya Kabakov, Kazuo Katase und Ingeborg Lüscher). Auch im Anschluss an ihre Pensionierung setzt Renate Petzinger die Arbeit an diesen Werkverzeichnissen weiter fort – nunmehr in zeitgemäß digitaler Form.

Eva Hesse, Untitled, 1963. Allen Memorial Art Museum, Oberlin College. Ellen H. Johnson Bequest. © 2019 The Estate of Eva Hesse. Galerie Hauser & Wirth, Zürich
Eva Hesse, Untitled, 1963. Allen Memorial Art Museum, Oberlin College. Ellen H. Johnson Bequest. © 2019 The Estate of Eva Hesse. Galerie Hauser & Wirth, Zürich

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