Intervention / Fluxus 2022

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Denkt man in Wiesbaden an Fluxus, wird schnell über die Zerstörung des Klaviers im Vortragssaal des Museums im Rahmen der Fluxus Festspiele Neuester Musik 1962, also Philip Corners „Piano Activities“, gesprochen. Darüber, wie fast schon barbarisch die KünstlerIinnen auf das Musikinstrument eingewirkt haben, ihm Töne entlockt haben, die gänzlich neuartig waren und die vor allem irritierten. Der Gedanke fällt auf das Zerschlagen roher Eier auf dem von Alison Knowles geschorenen Kopf Dick Higgins‘, zu der in Farbe getauchten und zum Pinsel umfunktionierten Krawatte Nam June Paiks, fällt auf die grenzenlose Materialschlacht, derer der Vortragssaal des Museums Wiesbaden 1962 Zeuge wurde. Es war ein großes,  sich über mehrere Wochenenden erstreckendes Spektakel, ein enormer Spaß (für die Beteiligten und das Publikum!), eine Aneinanderreihung von Absurditäten und vermeintlichen Regelbrüchen des „guten Tons“. In George Maciunas Bericht heißt es: „Wiesbaden war schockiert, der Bürgermeister musste beinah aus der Stadt fliehen, weil er uns den Saal zugestanden hatte.“ (George Maciunas an La Monte Young, zit. nach Emmett Williams und Ann Noël, Mr. Fluxus. Ein Gemeinschaftsportrait von George Maciunas, 1931–1978, Wiesbaden 1996, S. 53).

Dabei war (und ist?) Fluxus so viel mehr als in Wiesbaden gezeigt und erfahren werden konnte. Es war ein Zeitgeist, der sich bereits weit vor den Festspielen 1962 manifestierte und vor allem den weiteren Verlauf der 1960er Jahre intensiv prägen sollte – nicht als alleinige Kunstströmung, sondern als Beat, der die Kunstszene in gewisser Weise durchzog. Es war die logische Schlussfolgerung einer KünstlerInnen-Generation, die neue Forderungen an den Kunstbetrieb und an den Kunstbegriff selbst formulierten. In all diesen Bestrebungen und Perspektivwechseln, wirkt Fluxus oftmals wie ein Spielkasten oder ein großes Experimentierfeld, in dem die Kunstschaffenden im Dialog mit sich selbst, aber vor allem im Dialog mit ihrem Publikum – nun aktiven AkteurInnen – munter mit Gedanken spielten oder diese gänzlich unangepassten Resultate in die Praxis umsetzten.

In diesem Dunstkreis und Zeitgeist bewegte sich ebenfalls die japanische Künstlerin Mieko Shiomi, die zwar 1962 nicht in Wiesbaden vor Ort war, jedoch ein Jahr später Nam June Paik in Japan kennenlernte und der ihr attestierte, dass ihre Kunst und ihre Bestrebungen genau zu jenen passen würden, die im westlichen Kunstdiskurs als Fluxus zusammengefasst wurden. Ihr serielles und konzeptuelles Werk „Spatial Poem“, derzeit im Rahmen der Intervention in Teilen zu sehen, zeigt dies nur zu gut. So involvieren ihre von 1965–1975 über den Postweg versendeten Handlungsanweisungen ihr Publikum, de facto die AdressatInnen, direkt, fordern sie explizit zur Handlung auf: „Schreib ein Wort oder Wörter auf die beigelegte Karte und lege sie irgendwo hin. Bitte nenne mir den Begriff und den Ort, die auf der Weltkarte ergänzt werden.“

Mieko (Chieko) Shiomi, Spatial Poem No. 1 (word event), 1965/1989, Sammlung Tilman Baumgärtel (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Es folgten 69 Rückmeldungen mit Begriffen und Orten, die Mieko Shiomi vornehmlich aus Nordamerika, Japan und Europa erreichten. Sie selbst lebte von 1964 bis 1965 in New York. Auch die in Wiesbaden aktiven KünstlerInnen finden sich unter den 69 Antworten und werden (bzw. sind bereits) Teil eines Netzwerks von Kreativen, die Shiomis Handlungsanweisungen auf bisweilen absurdeste Weise lösten und dabei Einblicke in die individuellen Deutungen ermöglichten. Und es drängt sich dabei selbstverständlich die Frage auf: Ist denn nun eine Unterscheidung zwischen KünstlerIn und „OttonormalverbraucherIn“ überhaupt noch so dienlich? Es können doch schließlich alle adressierten Freunde, Bekannte oder Fremde daran teilnehmen! Spielerisch, nahbar und vor allem vernetzend brach Shiomi mit ihren „Spatial Poem“ subversiv den Kunstbegriff auf und generierte individuelle Erfahrungen der einzelnen TeilnehmerInnen, genauso wie ein kollektives Verständnis in Form ihrer an die ersten vier „Spatial Poem“ anschließenden Mappings – z. B. eine mit Fähnchen gespickte Weltkarte wie bei „Spatial Poem No. 1“.

Mieko (Chieko) Shiomi, Spatial Poem No. 1, 1965/1980, Sammlung Tilman Baumgärtel (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Mieko Shiomis Serie „Spatial Poem“ öffnet den Blick auf alltägliche Handlungen, auf das Fluxus-Netzwerk, auf die Möglichkeiten von (künstlerischer) Interaktion und auf die Kunst betreffende Fragestellungen, die auch 2022 nichts an Aktualität eingebüßt haben – man denke nur an die heutigen Vernetzungsmöglichkeiten des Internets. Ich lade Sie herzlich ein in Dialog zu treten!

Jana Dennhard

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