Interview mit Oliver Kornhoff
„Die Abstraktion trifft uns auf Augenhöhe“
Wir haben – kurz nachdem die spannende Personalie bekannt gegeben wurde – Dr. Oliver Kornhoff (Jahrgang 1969) im Namen der Freunde des Museums Wiesbaden auf dieser Website willkommen geheißen und vorgestellt. Nun können wir den Gründungsdirektor des Museums Reinhard Ernst, der im Dezember vom Arp Museum Bahnhof Rolandseck nach Wiesbaden wechselt, im Interview näher kennenlernen. Er nahm sich viel Zeit fürs Gespräch am Telefon. Spannend sind nicht zuletzt seine Ausführungen zur Annäherung an die abstrakte Kunst.
Herr Dr. Kornhoff, wie lange mussten Sie überlegen, als die Anfrage des Museumsbeirats des Museums Reinhard Ernst kam, Gründungsdirektor zu werden?
Eine sehr gute Frage … In den zwölf Jahren Arp Museum Bahnhof Rolandseck hatten wir den ein oder anderen Erfolg zu vermelden, und es gibt noch viele reizvolle Zukunftspläne für das Haus. Dennoch, wenn die Abwerbeversuche sich häufen – es waren vier in den letzten zwei Jahren –, dann fühlt man sich schon geschmeichelt. Und empfindet Freude wie Ehre.
Und am Ende konnte das Museum Reinhard Ernst punkten …
Erst einmal war ich auch hier zurückhaltend. Aber mir war klar: Dieses neue Haus der abstrakten Kunst von Grund auf zu gestalten wäre eine besondere Alternative. Ich wollte mehr Informationen über das ambitionierte Projekt des Bauherrn und Sammlers. Die erhielt ich umfassend von einem der Beiratsmitglieder.
War es etwa Alexander Klar, unser früherer Direktor des Museums Wiesbaden, der ja im Beirat ist?
Nein, ein anderes Mitglied. Alexander Klar kenne ich natürlich gut, wir gehörten ja der jüngeren Generation der Museumsdirektoren an, begannen an unseren Häusern, als wir so um die vierzig waren.
Sie wurden überzeugt, dass sich der Wechsel nach Wiesbaden richtig anfühlt?
Ja, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, war klar, dass ich das Angebot ernsthaft prüfen und zunächst Herrn Ernst und seine Sammlung persönlich kennenlernen wollte.
Wie haben Sie dieses erste Zusammentreffen erlebt?
Natürlich war ich neugierig: Was ist das für ein Mann, der solches bürgerschaftliches Engagement lebt und eine unglaublich tolle Sammlung hat? Wir haben dann einen Tag des Kennenlernens zusammen verbracht, waren im Depot und auf der Baustelle. Ich wollte erfahren: Wie professionell ist die ganze Sache gedacht, und wie nachhaltig angelegt? Und wie Sie sehen: Es war ein gegenseitig stimulierender Auftakt.
Ihre dann später im Beirat vorgetragenen ersten Ideen für das Wirken in Wiesbaden kamen auch gut an?
Ja, ich habe mich sehr gefreut, dass meine Vorstellungen und Visionen großen Anklang fanden. Was ich besonders bereichernd finde ist, dass ich diesen Beirat, in den Herr Ernst sehr geschätzte Kollegen und Kolleginnen gebeten hat, auch künftig an meiner Seite weiß. In einer Art „erweitertem Kollegenkreis“ werden wir Ideen austesten, Gedanken-Pingpong spielen und unsere Kompetenzen bündeln.
In einem Interview für die Webseite des Museums Reinhard Ernst sagen Sie, Sie möchten die Menschen immer wieder ins Abenteuer Abstraktion mitnehmen. Wie können Sie solche Kunstfreunde erreichen, die sich mit zeitgenössischer abstrakter Kunst eher schwer tun?
Niemals kann man alle Menschen für moderne Kunst erreichen, das ist keine Frage von abstrakter Kunst. Das ist auch nicht weiter schlimm. In das Bildungs- und Freizeitverhalten museumsferner und museumsfremder Menschen muss ein Museum überhaupt erstmal Einzug halten. Auf diese Zielgruppe konzentrieren wir unsere Ressourcen in Einzelprojekten und speziellen Programmen. Mit allen Museumsnahen und den Gelegenheitsbesucherinnen und -besuchern möchten wir bereits jetzt schon zur Abenteuerreise Abstraktion aufbrechen. „Menschen, Tiere, Sensationen“ und unvergessliche Reiseerlebnisse garantiert. Meiner Erfahrung nach hat das Staunen über die abstrakte Kunst, über die bis heute spektakulären Errungenschaften dieser Kunstrevolution, nicht an Intensität eingebüßt.
Aber ganz einfach ist es sicher nicht, eher Abgeneigte für das Abstrakte zu gewinnen?
Es ist tatsächlich ein weit verbreitetes Vorurteil, dass die abstrakte Kunst unverständlich sei. Das muss man aber als Gelegenheit betrachten und selbige entschieden am Schopfe packen. Diesen anderen Zugang zur Wirklichkeit als Mehrwert erlebbar zu machen, ist unsere Verantwortung. Das Ganze nicht „vom Katheder“, sondern aus der Gegenwart unseres Publikums heraus. Das ist ein anderer Blickwinkel. Gerade bei der Abstraktion bringen die Menschen dafür alles mit und können dem Kunstwerk souveräner begegnen, als es vielleicht mit anderen Kunstformen und Kunst anderer Zeiten möglich ist. Die Abstraktion tritt uns auf Augenhöhe entgegen. Es ist alles da. Es ist alles im Bild.
Wie werden Sie skeptischen Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern begegnen, denen die Architektur des Japaners Maki nicht gefällt und die immer wieder – zum jetzigen Zeitpunkt – von einem „Bunker“ sprechen, der an ihrer schönen „Rue“ entstehe?
Ich denke, das wird sich von selbst regeln. Oft gibt es bei neuen Bauwerken erst einmal Ressentiments. Wenn aber erst die weiße Fassade, der gläserne Innenhof, die Kuppel zu sehen sind, wird man nicht mehr vom „Bunker“ sprechen. Stararchitekt Maki gelingt es, das Museum als Schatzhaus für eine mit Spannung erwartete Sammlung und genauso zu einem Architekturerlebnis mit besonderen Lichterlebnissen und einem besonderen Willkommensbereich zu machen.
Die Sammlung Reinhard Ernst umfasst gut 800 Werke. Haben Sie einen Favoriten?
Da könnte ich viele Werke nennen, die ich im Depot betrachtet habe, der Besuch dort hat mich sehr in den Bann gezogen. In jedem Fall gehört die Amerikanerin Helen Frankenthaler dazu. Ich freue mich sehr darauf, sie und den amerikanischen abstrakten Expressionismus zu feiern. Aber unsere Reise wird in den kommenden Jahren nicht nur in die USA führen. Ich freue mich sehr darauf, die, mir selbst auch erst wenig vertrauten, japanischen Avantgarde Künstlerinnen und Künstler als Reiseführerinnen und -führer kennenzulernen. Und immer wieder werden wir zu den Hauptstädten des europäischen Informels reisen – und damit auch nach Wiesbaden.
Helen Frankenthaler ist ja auch eine Lieblingskünstlerin des Sammlers. Würden Sie noch einen oder zwei Namen nennen?
K. O. Götz und Gotthard Graubner, die wir in großen Einzelausstellungen im Arp-Museum gewürdigt haben. Übrigens: Die Installation von Katharina Grosse im Museum Wiesbaden hat mir seinerzeit viel Spaß gemacht. Ihre Kunst wird auch im Museum Reinhard Ernst prominent zu entdecken sein.
Götz und Graubner sind auch im Museum Wiesbaden zu betrachten. Gehen wir mal kurz nach nebenan. Reinhard Ernst betont immer wieder, dass die beiden Museen eng und gut zusammenarbeiten sollten, was auch vom neuen Direktor Dr. Andreas Henning sehr gewünscht wird. Wie sehen Sie das?
Ja, das Miteinander ist wichtig, und „Wir“ ist generell für mich ein großer Motivator. Natürlich habe ich auch schon auf den Förderkreis des Museums Wiesbaden geblickt. Chapeau, zweitausend Mitglieder und so vital! Dass Sie eine Ihrer anstehenden Freundeskreis-Reisen nach Rolandseck in unser derzeitiges Themenjahr „fantastisch plastisch“ führen wird, ist wunderbar. Danke dafür!
Herr Dr. Kornhoff, und wie haben Sie bisher die Stadt erlebt?
Bisher natürlich nur an der Oberfläche. Ich möchte Wiesbaden mit den Schritten eines Flaneurs kennenlernen, die Stadt zu Fuß erkunden und so ein Gefühl für die Adressatinnen und Adressaten unserer Kulturarbeit bekommen. Im wörtlichen und übertragenen Sinne sind die ersten Schritte gemacht. Denn das Erdgeschoss unseres Museums wird zur Stadtgesellschaft hin weit geöffnet sein.
Und sicher haben Sie schon die „Rue“ als Kulturmeile entdeckt.
Die Wilhelmstraße hat eine ungeheure Aura. Historisch und gegenwärtig. Und besonders kulturell: das staatliche traditionsreiche Museum, unser neues Haus der abstrakten Kunst, der Nassauische Kunstverein, die Villa Clementine und der Bellevue-Saal. Ein Kultur-Epizentrum mitten in der Innenstadt. Das ist großartig!
Sind Sie eigentlich auf der Suche nach einem Wohndomizil schon fündig geworden?
Noch nicht. Wenn jemand mir eine schöne, ruhige 3-Zimmer Altbauwohnung vermitteln würde, wäre ich sehr dankbar. In Fahrraddistanz zum Museum. Vorhin ist mir übrigens noch eine besondere, sentimentale Erinnerung zu Wiesbaden eingefallen.
Das klingt spannend. Was haben Sie hier erlebt?
In einer Wiesbadener Galerie habe ich vor vielen Jahren mein allererstes privates Kunstwerk gekauft. Eine Fotoarbeit von Jan Wenzel, die immer noch einen Ehrenplatz an meiner Wand hat.
Herr Dr. Kornhoff, noch sind Sie – bis Dezember – im Arp Museum. Nun musste es wegen der Hochwasser-Katastrophe zuletzt geschlossen bleiben. Wie ist die Lage?
Danke, dass Sie fragen. Zum Glück sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohlauf. Auch das Museum und die uns anvertraute Kunst sind unversehrt. Weil aber die Stromversorgung in der Region noch nicht völlig gesichert ist und andere Verbraucher Elektrizität dringender benötigen, konnten wir die vergangenen beiden Wochen keine Gäste ins Haus lassen. Wir haben unseren Stromverbrauch auf das Nötigste, auf Sicherheits- und Klimatechnik, beschränkt. Gottlob waren die fieberhaften Arbeiten inzwischen erfolgreich, und wir haben gerade heute die Nachricht erhalten, dass wir Dienstag, dem 3. August, wieder öffnen dürfen. Vielleicht ein kleines Zeichen der Zuversicht – nicht nur für uns.
Wenn dann nächste Woche wieder Gäste kommen können, erklären Sie doch in kurzen Worten, warum man das Arp Museum Bahnhof Rolandseck unbedingt besuchen sollte.
Puh. In kurzen Worten? Das fällt mir schwer. Hier findet man hochkarätige Bildende Kunst unter dem Patronat zweier der wichtigsten abstrakten (lacht) Künstler des 20. Jahrhunderts, Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp. Dies in einzigartiger Architektur: einmal das historische Bahnhofsgebäude, zum anderen der moderne Bau des amerikanischen Architekten Richard Meier hoch über dem Fluss. Und das Ganze mitten in der Rheinromantik. Diese lässt sich auf der wohl schönsten Gastronomie-Terrasse am Rhein mit dem Ausblick auf das Siebengebirge bestmöglich und lecker genießen.
Verraten Sie uns, welche Ausstellungen uns erwarten?
Wir feiern dieses Jahr im Arp Museum ein Fest der Bildhauerei durch die Jahrhunderte. Unser aktueller Jahreshöhepunkt ist „RODIN/ARP“, das erste museale Rendezvous dieser beiden Großmeister (bis November 2021). Gleichzeitig zeigen wir in der Kunstkammer Rau, was die alten Meister bis 1900 buchstäblich „In Form“ brachte (bis Januar 2022). In der zeitgenössischen Kunst führt uns Stella Hamberg ihren und unseren „Corpus“ vor Augen (bis Februar 2022). „Fantastisch plastisch“ also und eine baldige Rheinreise sehr lohnend!
Die Fragen stellte Ingeborg Salm-Boost
PS: Den Werdegang des gebürtigen Kölners Oliver Kornhoff finden Sie hier im Artikel „Auf gute Nachbarschaft!“.