Vollrad Kutscher

Und immer wieder ein Abenteuer …

Er ist ein Installationskünstler, der das Abenteuer der Teamarbeit mit Dieter Reifarth und Hubert Machnik liebt. Er ist einer der „Pioniere der Medienkunst“ (wie die Süddeutsche Zeitung ihn gewürdigt hat), ein Performance-Künstler, der „in der Gesellschaft verwurzelt und zugleich im Aufbruch ist“, wie der stellvertretende Direktor des Museums Wiesbaden, Jörg Daur, im Katalog zu „reSTART“ schreibt … Warum wir uns sehr auf diese Doppelausstellung in Museum Wiesbaden und Kunsthalle Wiesbaden freuen können, legt Monique Behr, Leiterin des Referats Bildende Kunst bei der Stadt, unter dem folgenden Interview dar. Gerne möchten wir vorab mit Vollrad Kutscher selbst Lust auf „reSTART“ machen. Auf nachdenklich stimmende Installationen mit neuem Bezug zu unserem Dasein in diesen außergewöhnlichen Zeiten. Eigentlich sollte dieses Kunst-Ereignis schon ab Mai 2020, zum 75. Geburtstag Kutschers, präsentiert werden. Dann kam Corona. Noch kann man nur im Video, virtuellen Rundgang oder Katalog einen ersten Eindruck gewinnen. Und an dieser Stelle mit dem Künstler selbst.


Vollrad Kutscher: Einatmen – Ausatmen (Porträtinstallation Norbert Klassen) © Horst Ziegenfusz

Einatmen – Ausatmen. Herr Kutscher, wie fühlt man sich, wenn Ihr großes Thema plötzlich in Zeiten der Pandemie eine weitere, eine ganz besondere Bedeutung bekommt?

Es ist ja nicht gerade erfreulich, was uns vor fast einem Jahr ereilt hat. Aber, es ist immer so mit meinen Arbeiten, dass sich durch sich ändernde Umweltbedingungen und auch durch gesellschaftliche Entwicklungen der Blick aufs jeweilige Kunstwerk verändert. Das macht die Qualität eines Kunstwerks aus.

Zur Doppelausstellung „reStART“ gibt es einen sehr gelungenen Katalog, in dem Kunstexperten Ihre spannenden Arbeiten beleuchten. Für uns Freunde wäre es schön, wenn Sie ein paar Schlaglichter auf die Projekte werfen würden. Bitte jeweils eine kurze Erklärung zur Entstehung und zur Weiterentwicklung … Fangen wir mit „Einatmen – Ausatmen“ an.

Aus der 144 Teile umfassenden Terrakotta-Installation ist nun aus der Marschformation eine andere geworden, die dem Stillgestanden entspricht. So wie zwischen Einatmen und Ausatmen eine Pause besteht, also ein Stillstand, sind wir nun im gemeinsamen Lockdown. Im Stillstand also. Das ist die Möglichkeit, nachzudenken, ob alles so weitergehen wird, ob wir uns in einem Paradigmenwechsel  befinden, in dem das unteilbare Individuum zum Multividuum wird.

Der „Weiße Traum“ von 2015 ist entgegen ursprünglicher Planung reduziert zu sehen bzw. anders präsentiert.  Bitte auch hier ein Wort zum Ursprung dieser Installation, die dem Museum Wiesbaden gehört, und dazu, was wir in der Kunsthalle erleben werden.

Der „Weiße Traum 2020“ ist eine Videoinstallation mit zwei rückseitig aneinander stehenden Bildschirmen und den jeweiligen Arbeitsskizzen an den Wänden. Zum einen das Video der Verschmelzungsaktionen mit einer noch nie gezeigten Auswahl von Vorbereitungsskizzen von 1980, zum anderen ein neuer Zeichentrickfilm mit dabei angefallenen Übermalungen dieser alten fotokopierten Skizzen. Es gibt also Rückblick und Neuinterpretation, was aus einem Filmriss und aus meinen zwei Alter Egos besteht. Es endet in einem weißen Rund, im Zentrum der ursprünglichen Installation, aus der alles entsteht.

Das macht neugierig. Kommen wir nun zu „ARS MUNDI 2020 – Ach, Och und Aerosole“. Die Arbeit wird ja im Giraffensaal des Museum Wiesbaden zu erleben sein. Das „Ach“, sagten Sie mal, bezieht sich auf eine Sterbende, auf Ihre Tante … Was hat sich in der Aktualisierung verändert?

Diese Arbeit war ursprünglich gedacht als Erinnerung an das kindliche Wunder über unseren Atemniederschlag als Hauch an einer kalten Scheibe. Das Erstaunliche ist: Jeder Mensch hat einen anderen Atemniederschlag. Die unsichtbare Luft, die uns belebt, wurde so sichtbar, und man konnte sogar hineinzeichnen. Meine ursprüngliche Vorstellung war ein großer Bilderteppich aus atmenden Mündern, Alt und Jung, Frau und Mann, Schwarz und Weiß … Dies so hinzubekommen, war damals, Mitte der 90er, nicht möglich. Aber jetzt, in Zusammenarbeit mit Dieter Reifarth und Hubert Machnik, ergab sich sogar eine Öffnung zur Aufnahme weiterer erzählerischer Elemente.

Zum Beispiel?

Luft durchstreicht die Instrumente der Komposition, was in den hinzukomponierten Bildern sichtbar wird als Wind, Vogelflug, als Blasen im Wasser … Als alles durchdringender Lebenshauch.

Das klingt irgendwie philosophisch …

Man macht sich das nicht klar, aber wir teilen die gemeinsame Ressource Luft seit Jahrtausenden. Leben und Sterben gehören zusammen. Denn wir atmen auch die Luft der schon Verstorbenen. Also auch die Luft, die meine Tante, als sie im Sterben lag, geatmet hat. Und ebenso die des vorbeilaufenden Hundes.

Film-Still aus der Videoinstallation ARS MUNDI 2020, Ach Och und Aerosole © Vollrad Kutscher, Dieter Reifarth, Hubert Machnik © Horst Ziegenfusz

Dann haben wir im Museum Wiesbaden noch „Dudolldu“? Was hat es damit auf sich?

„Dudolldu“ zeigt den performativen Teil meiner gemeinsamen Arbeit mit meinem 2011 verstorbenen Freund Norbert Klassen. Also vom Künstler und seinem Modell. Es liegt das Material in einem Koffer: Fotos, Filme etc. aus dieser immer fortgeführten Zusammenarbeit. Und es zeigt zugleich das Scheitern am Versuch, etwas statisch zu erhalten und zu verewigen.

Sie und Ihre Mitstreiter konnten sich über eine großzügige Förderung durch das Land Hessen freuen? War dies nun Corona-Hilfe, oder gab es vorher schon Förderungszusagen?

Wir waren natürlich sehr froh über diese Förderung, die mit den Corona-Hilfen zusammenhängt. Damit konnten wir u. a. die aufwendige Technik im Museum und den Katalog sowie Transportkosten stemmen. Natürlich mussten wir einen Finanzierungsplan vorlegen. In der Regel stellen wir vor neuen Projekten keine Anträge, Sie müssen wissen, dass diese Antragstellungen unendlich viel kreative Kraft kosten. Schön ist es, wenn man nach der Präsentation eine Förderung oder sogar einen Preis bekommt …

An dieser Stelle vielleicht noch ein Wort zu Ihren Kollegen für Film und Ton, die offenbar genauso ambitioniert und kreativ sind wie Sie.

Das stimmt. Mit Dieter Reifarth verbindet mich seit den 1970er Jahren eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit. Er ist ein preisgekrönter Kurzfilm-Profi. Er ist der Frontmann für die filmische Darstellung. Hubert Machnik kenne ich seit etwa 2000. Und er, der Komponist, ist vor allem am Theater und Ballett zu Hause. Auch er wurde schon mit Preisen ausgezeichnet. Er kommt immer wieder auf neue, vorher nie angedachte Ideen, wenn es um den Sound geht. Es gibt dann immer wieder Abenteuer und Überraschungen. Wissen Sie, das Schönste ist wirklich, dass wir zu dritt so kreativ sind.

Wenn denn endlich an den beiden Orten „reSTART“ zu sehen sein wird, wo fängt man dann an, wie geht man weiter?

Ich würde in der Kunsthalle beginnen, in „Einatmen – Ausatmen“ eintauchen. Dann würde ich dort, im anderen Raum, die Naturaspekte des „Weißen Traum“ anschauen. Um mich anschließend im Museum Wiesbaden, umgeben von den Bildern, bei ARS MUNDI inspirieren zu lassen, mich körperlich ganz darauf einzulassen. Dann vielleicht noch ein Abstecher zu „Dudolldu“.

Bleiben wir im Museum: Der Kustos für Alte Meister, Peter Forster, hat ja über Ihr Schaffen seine Dissertation geschrieben. Von ihm steht der schöne Satz im Katalog: Und so eröffnen die drei Künstler uns mit ihrer komplexen Komposition aus Bewegung, Farbe, Klang, Licht und Raum neue Perspektiven auf uns selbst und auf unsere Stellung auf dem Raumschiff Erde …

Ich habe Peter Forster kennengelernt, als er Student war, er hat mein Werksverzeichnis angefertigt. Da hat man natürlich viel miteinander zu tun und lernt sich schätzen. Wie schon erwähnt, wurde mein Schaffen dann ja auch sein Promotionsthema. Übrigens, als die Dissertation dann fertig war, haben wir das Du eingeführt. Er und Jörg Daur begleiten seit Jahrzehnten meine Arbeit.

Jetzt hat der Künstler noch einen Wunsch frei …

Ich wünsche mir, dass „Einatmen – Ausatmen“ mit den 144 Köpfen in einer guten Sammlung untergebracht werden kann.

Wo ist das Werk denn jetzt, wenn keine Ausstellung ansteht?

Das Depot ist ein nicht mehr benutzter Heuboden in ca. drei Meter Höhe. Ein Glück, dass ich noch so fit bin …

Und was wünscht sich der Privatmann Vollrad Kutscher?

Gesund zu bleiben und mit meinen zwei Kollegen weiterhin ästhetische künstlerische Abenteuer anzugehen.

Das Gespräch führte Ingeborg Salm-Boost

Der Künstler im Kartoffel-Porträt. „Damals frisch geschnitzt in der Kartoffelkino-Phase 2013. Ist inzwischen ziemlich geschrumpelt“, sagt Vollrad Kutscher. Es entstand eine Dreier-Version: „Nicht hören, nicht sehen, nicht sprechen“. (Foto: Vollrad Kutscher)

Kutscher-Werke in Wiesbaden
Im Museum Wiesbaden finden sich die „Leuchtenden Vorbilder“. 60 Künstlerporträts, „mit Licht und Schatten – minimalisiert“, so beschreibt es Vollrad Kutscher selbst. Außerdem gibt es den Koffer, der den Künstler und sein Modell, den verstorbenen Schauspieler und Freund Norbert Klassen, 25 Jahre lang begleitet hatte (Dudolldu). „Zusammenfassung unserer Arbeiten – Skulptur in Bewegung“, sagt Kutscher dazu. Der „Weiße Traum“ und weitere Arbeiten sind ebenfalls im Besitz des Museums, aber nicht kontinuierlich zu sehen. Das gilt auch für das „Kartoffelkino“, das aber immer wieder mal in der „Natur“ auftaucht. Auch hier ist Kutschers Thema: Der Prozess der Vergänglichkeit, „den auch wir Menschen durchleben“. Von der Kartoffel zum Kürbis: Diese Installation aus Edelstahl-Gitterkugeln findet sich auf dem Dern’schen Gelände. Sie wird alljährlich mit Kürbissen bepflanzt, im Herbst wird geerntet – und ein Kürbissuppenfest gefeiert … Den „Himmel über Hessen“ hat Vollrad Kutscher in den Landtag gebracht. Auch an der Gedenkstätte Schlachthoframpe für die Wiesbadener Deportationsopfer hat er mitgewirkt. Ein weiteres Projekt zum Gedenken soll noch in diesem Jahr im Rathaus seinen Platz finden: „Für Demokratie – Wiesbadener Bürger im Widerstand gegen die Nazidiktatur 1933 bis 1945“. (isa)

Künstlerisches Doppel

Mit dem Ergebnis ihres ersten kulturellen Zusammenspiels stehen Museum Wiesbaden und Kunsthalle Wiesbaden in der Warteschleife – und mit ihnen: Vollrad Kutscher, Künstler und Freundeskreis-Mitglied seit Anbeginn, dessen vielfältiges Werk mit diesem Projekt gefeiert wird. Wie kam es zur Ausstellung mit dem Titel „reSTART“ und was können wir, hoffentlich bald vor Ort, bestaunen? Bei Monique Behr, Leiterin des Referats Bildende Kunst beim Kulturamt Wiesbaden, haben wir angefragt. Verraten hat sie uns auch, welche Rolle der Neujahrsempfang des Fördervereins dabei gespielt hat …


Vollrad Kutscher und ich trafen uns Ende 2019 im Museum für Kommunikation Frankfurt, in dem ich als Verantwortliche für den Bereich Wechselausstellungen tätig war. Ich berichtete ihm von meinem beruflichen Wechsel zur Stadt Wiesbaden. Als zukünftige Leiterin des Referats Bildende Kunst mit eigener Kunsthalle richtete ich den Wunsch an ihn, eine Ausstellung anlässlich seines 75. Geburtstages 2020 auszurichten zu dürfen, welche zeitgleich auch der Start meiner Programmtätigkeit für die Kunsthalle sein sollte. Zu meiner großen Freude stimmte er dem Ansinnen zu und informierte mich, dass wohl auch das Museum Wiesbaden, insbesondere Kustos Peter Forster als Experte für das Kunstschaffen Vollrad Kutschers, ein Projekt zu seinen Ehren überlegen würde.

So war es denn auch, wie ich am Neujahrsempfang der Freunde des Museums Wiesbaden im Januar 2020 erfahren durfte: Peter Forster und ich sprachen dort zum ersten Mal über unsere Ideen, und so war die Grundlage für die erste Kooperation zwischen Kunsthalle Wiesbaden und Museum Wiesbaden gelegt.

Film-Still aus der Videoinstallation ARS MUNDI 2020, Ach Och und Aerosole © Vollrad Kutscher, Dieter Reifarth, Hubert Machnik © Horst Ziegenfusz

In beiden Häusern sind nun seit dem 12. Dezember 2020, dem eigentlichen Eröffnungstermin, die eigenständigen aber doch sich ergänzenden Ausstellungen fertig aufgebaut. Dass im Museum Wiesbaden die Arbeit „Ars Mundi“ von 2019 gezeigt werden würde, stand von Anfang an fest. Sie erfuhr nicht nur durch die Pandemie eine Aktualisierung und erhielt den Titel „Ars Mundi 2020 – Ach, Och und Aerosole“:  Es ist ein Merkmal der Arbeitsweise von Vollrad Kutscher, dass er seine Kunst gerne mehrmals präsentiert und sie entsprechend der Gegebenheiten und aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen verändert. In der Kunsthalle Wiesbaden sollte „Der weisse Traum“ von 1980 gezeigt werden.

Vollrad Kutscher: Der Weiße Traum (Videoinstallation) © Horst Ziegenfusz

Im Laufe des Jahres entschieden wir uns, zusätzlich die ursprünglich 1992 geschaffene Porträtinstallation „Einatmen – Ausatmen“ zu präsentieren. So entwickelt dieser Titel zusammen mit der Bezeichnung der Doppelausstellungen reSTART nicht nur aufgrund des programmatischen Neustarts der Kunsthalle, sondern auch durch die pandemische Situation eine besondere Sinnhaftigkeit.

Vollrad Kutscher: Einatmen-Ausatmen (Porträtinstallation Norbert Klassen) © Horst Ziegenfusz

Vollrad Kutscher arbeitete an reSTART in bewährter Manier mit Hubert Machnik (Musik) sowie Dieter Reifarth (Film) zusammen und erhielt großzügige Förderung im Rahmen des von der Hessischen Kulturstiftung aufgelegten Unterstützungsprogramms mit Namen „Hessen kulturell neu eröffnen“: und so hoffen wir auf die tatsächliche baldige Öffnung der Ausstellungen, die bislang noch niemand gesehen hat.

Währenddessen ist der virtuelle Rundgang ein künstlerischer Appetitmacher auf die Ausstellungen, die in der Kunsthalle bis zum 9. Mai und im Museum Wiesbaden bis zum 14. März 2021 zu sehen sein wird.

Der Katalog, der die beiden Ausstellungen begleitet, verkürzt das Warten auf reSTART. Er kostet 20 Euro und kann über das Museum Wiesbaden unter museum@museum-wiesbaden.de bestellt  oder direkt in der Kunsthalle zu den Öffnungszeiten der Artothek (Di, Mi, 11 bis 17 Uhr, Do bis 19 Uhr, am ersten Samstag im Monat) erworben werden.

Der Katalog wird im Museum Wiesbaden mit einem Filmprogramm im März präsentiert, ein genaues Datum steht noch nicht fest, wird aber rechtzeitig bekanntgegeben.

Monique Behr

Seit Januar 2020 Leiterin des Referats Bildende Kunst beim Kulturamt Wiesbaden: Monique Behr

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