Kulturcampus MuWi

Als Shahwan auf Helene traf …

Jawlenskys Helene hat ihn beeindruckt: Shahwan Borto sucht gern die Geschichte hinter den Bildern. (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Es war noch vor der Corona-Pandemie: Ein Zusammentreffen im vorübergehend leeren Vortragssaal des Museums Wiesbaden. Hier sitze ich mit Shahwan Borto (24), einem jungen, sozial engagierten Studenten, der sich gerne Ausstellungen anschaut. Einer, der wissbegierig ist und auch helfen möchte, dass mehr Menschen seiner Altersgruppe das Haus der Kunst und Natur für sich entdecken – zumal es ja dank Freunde-Verein und Museum die Studentencard gibt. Kein Wunder also, dass er die Organisation für seine Hochschule, die EBS Universität für Wirtschaft und Recht, übernahm, nachdem Klaus Niemann im Namen des Förderkreis-Vorstands Studentengruppen zu Führungen eingeladen hatte.

Auf der Freunde-Website wollen wir, wie angekündigt, in unserer Kolumne „Kulturcampus MuWi“ mit jungen Leuten im Austausch sein, sie zu Wort kommen lassen und, wenn der eine oder andere vielleicht Lust hat, auch zum Schreiben animieren. Natürlich soll unser Museum im Fokus stehen, wollen wir offen für Anregungen sein. Wenn der heutige Beitrag allerdings auch etwa ausführlicher auf Shahwans bisherigen Lebensweg eingeht, so wird das sicher nicht verwundern. Denn der Student der Rechtswissenschaften mit integriertem Wirtschaftsstudium an der EBS kam als Kind mit Mutter und vier Geschwistern im Jahr 2009 aus dem Nordirak nach abenteuerlicher Flucht in Deutschland an. Als Jesiden war die Familie verfolgt, der Vater, der für die Rechte der ethnisch-religiösen Minderheit aktiv war, hatte schon Jahre zuvor das Land verlassen müssen.

Wenn Shahwan heute, als 24-Jähriger, stark am Kulturleben teilnimmt – zum Beispiel gerne (noch vor der vorübergehenden Schließung des Museums) auf Einladung der Freunde „Homecoming“ mit den Werken von Ludwig Knaus besuchte und immer wieder auch an den Natursammlungen interessiert ist –, dann spricht dies für den unbändigen Willen, kontinuierlich sein Wissensspektrum zu erweitern. Dabei fing alles doch eher wenig hoffnungsvoll in Köln an. Wenn das Kind jesidischer Eltern, die durchaus noch nah an ihrer Tradition leben, von der Flucht über sechs Ländergrenzen spricht, der Zeit auf einem Frachtschiff, das mit Motorschaden drei Wochen auf dem Meer trieb, ehe die Menschen vor der griechischen Küste gerettet werden konnten, wenn Shahwan vom schwierigen Schulbeginn in Köln-Kalk erzählt, dann schwingt sie trotz allem deutlich mit: Dankbarkeit für das, was ihm möglich gemacht wurde. Und wofür er mit großem Ehrgeiz arbeitete.

„Das war nicht gerade die beste Voraussetzung: in Köln-Kalk aufzuwachsen und hier eine Hauptschule zu besuchen“, meint Shahwan. Aber das klare Ziel des Jungen, der im Nordirak keineswegs regelmäßig eine Schule besuchen konnte, der ohne jede Sprachkenntnis sein neues Leben in Deutschland anfing, war möglichst rasch der Wechsel auf ein Gymnasium. Dass er morgens um vier in der Zweizimmer-Wohnung zu lernen begann, wo er mit inzwischen fünf Geschwistern und den Eltern arg beengt lebte, war für den Jungen normal. „Ich wusste es nicht anders.“ Er habe an der Hauptschule Unterstützung erfahren, sagt Shahwan in der Rückschau. Er schaffte es, dank eines guten Hauptschulzeugnisses auf das Gymnasium zu kommen. Wer dem Studenten von heute zuhört, der merkt, wie sehr ihm die deutsche Sprache liegt, mit welchem Sprachschatz er zu hantieren weiß. „Sprache hat mir immer schon Spaß gemacht“ sagt er, dessen Familie im Nordirak eigentlich kurdisch sprechen wollte, es aber nicht durfte. „Uns wurde Arabisch aufgezwungen“.

Es gäbe eine Menge über das Leben und Wirken des 24-Jährigen im Detail zu erzählen. Hier ein paar Schlaglichter: Etwa, dass er mit einem Freund das Rettungsprojekt SafetyCall für geflüchtete Menschen im Mittelmeer durchzog, um in Notsituationen telefonisch vermitteln zu können. Denn, so sein Credo: „Sprache kann Leben retten.“ Es könnte ausführlich erzählt werden über „Lobby“, seine Kampagnenarbeit gegen extreme Armut, auch über den Verein zur Förderung humanitärer Hilfe für Flüchtlinge aus dem Nordirak oder etwa über die bundesweit viel beachtete Aktion „Spende dein Pfand“, die er ins Leben gerufen hat – zur Förderung bildungsbenachteiligter Mädchen im In- und Ausland. Die Liste ist lang, und seine sozialen Engagements fanden durchaus öffentliche Anerkennung, auch mit Preisverleihungen. 2018 hatte ihn außerdem der „Grüne Punkt“ als Social-Media-Berater engagiert.

Zu Recht sind die Eltern stolz auf ihren Jungen – er war der erste in der Familie, der dank Stipendien („sonst wäre es ja nicht möglich gewesen“) eine Akademiker-Laufbahn anstreben konnte. Inzwischen studiert auch ein Bruder. Und eine Schwester steht jetzt vor dem Abitur. Die Jüngste der Familie, in Deutschland geboren und mit dem deutschen Vornamen Katrin, wechselt nun zum Gymnasium.

Für Shahwan ist klar: Er will sein Fachwissen, das er an der Universität in Wiesbaden erwirbt, eines Tages auch für sein verfolgtes Volk einsetzen. Das deutsche Recht sieht er als ein Privileg. Er könnte sicher eine Vorlesung über das Schicksal der Jesiden halten, über den Genozid im Jahr 2014, als beim Vernichtungsfeldzug der IS- Dschihadisten geschätzt 10.000 Menschen das Leben verloren. Aber das wäre eine eigene Geschichte. „Erst einmal nach dem Studium drei bis vier Jahre Erfahrung sammeln als Anwalt“, sagt er. So wohl er sich in Deutschland fühlt, das Schicksal der Jesiden „reißt mich immer wieder aus dem Leben hier“. Wobei ihm eines wichtig ist: „Einen gewissen Abstand zu wahren zwischen diesen beiden Welten.“ Der Student sagt von sich: „Meine Mutter ist nicht deutsch, aber meine Muttersprache ist deutsch.“ Denn Sprache ist für ihn identitätsstiftend. Shahwan empfindet sich als Deutscher mit jesidischem Hintergrund.

Schon in der Schule fühlte er sich dem Theater verbunden, besuchte auch die Oper. Und er hatte Deutsch als Leistungsfach. Zu Museen fand er ebenfalls leicht Zugang. Seine Mutter und die jüngste Schwester hat Shahwan auch schon durch das Museum Wiesbaden geführt.

Als die Freunde mit der Studentencard warben, fanden es nach seiner Beobachtung viele zunächst nicht so cool – weil sie überhaupt keinen Zugang hatten. Aber er registriert mittlerweile mehr Interesse, nicht zuletzt durch Flyer und durch Einladungen. „Man muss das Grundinteresse weiter wecken, feste Termine anbieten“, meint derjenige, der als Studentensprecher für die Koordinierung und ersten Kontakte zuständig war. Shahwan Borto teilt auch die Meinung des Freunde-Vorstands, dass zum „Anlocken“ der Generation YZ durchaus der Spaßfaktor wichtig ist, man auf Interaktion setzen sollte – wie es übrigens ein Team der Hochschule Fresenius in einer Semesterarbeit vorgeschlagen und beim Neujahrsempfang des Förderkreises mit viel Beifall vorgestellt hatte. Digitale Anreize geben, eine App mit Spielcharakter entwickeln – Shahwan kann sich einiges vorstellen. Auch, dass am Ende viele Vertreter seiner Generation doch vor dem Werk im Museum stehen – und staunen. Wenn erst einmal die digitalen Anreize vorhanden seien, dann könne am Ende jeder entscheiden: Ist das was für mich oder nicht? Gerade in der jetzigen Corona-Zeit zeige sich doch, was das Digitale alles möglich machen kann, meint der Student. Und plädiert dafür: „Kunst und Kultur müssen diesen Weg stärker gehen“. Allerdings will er die digitalen Angebote als „Form der Absicherung, als Ergänzung“ sehen. Dies haben wir übrigens am Telefon besprochen, nach unserem Treffen, bei dem es ja noch ein offenes Museum gab …

Klar, dass wir von unserem Gesprächspartner auch wissen wollen, was ihm denn besonders gefällt im Museum Wiesbaden. Ihm gefallen die Angebote in der Natur, ihr fühlen sich die Jesiden besonders verbunden, betont er. Aber, und das erinnert Shahwan sehr lebhaft, bei einer Führung war er besonders beeindruckt von einem sehr großen Bild mit einer ausdrucksstarken jungen Frau. Er erfuhr, dass hier ein Dienstmädchen abgebildet sei. Und weil er, so sagt Shahwan, immer die Geschichte hinter dem Bild sucht, fragte er sich, wieso dieses Dienstmädchen so kraftvoll und selbstbewusst dem Betrachter entgegentritt … Ja, es ist das Jawlensky-Werk „Helene im spanischen Kostüm“, das den Studenten neugierig machte. In unserem Gespräch ließ sich das Geheimnis um Helene, Jawlenskys spätere Frau und Mutter seines Sohnes, lüften … Und kurze Zeit nach unserem Treffen konnte Shahwan Borto Förderkreis-Mitglied Frank Brabant kennenlernen – den großzügigen Sammler, der dem Museum Wiesbaden dieses Bild schon vor Jahren geschenkt hatte. Die Begegnung fand bei der Ausstellungseröffnung „Homecoming“ statt. Ganz bestimmt wird Shahwan auch die „Lebensmenschen“ besuchen, und sicher macht er dann bei „Helene im spanischen Kostüm“ Halt. Wenn denn die Türen wieder offen sind. Bis dahin seien ihm die wöchentlichen Kurzbetrachtungen des Kurators Roman Zieglgänsberger auf unserer Website empfohlen. Und auch die vom Museum angebotene App zur Schau.

Ingeborg Salm-Boost


PS: Seit unserem Treffen im Museum hat sich die Welt verändert. Deshalb setzen wir unser Gespräch telefonisch fort. Auch die Türen zur Hochschule sind verschlossen, Prüfungen wurden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Shawhan will in diesen Tagen bei seiner Familie in Köln sein. Er schreibt dort an einer Hausarbeit – unter veränderten Bedingungen. Die vielen Bücher, die er eigentlich gerne zur Hand hätte, fehlen ihm nun, die sind in der Uni. Der Professor, so sagt Shawhan, versorgt die Studenten aber digital mit wichtigen Stellen aus der Fachliteratur. Trotz Hausarbeit in Köln zu sein, das sei für die Psyche das Beste. Man koche, spiele Karten, schaue Filme … Die Brüder erledigten auch die Einkäufe für ältere Nachbarn, berichtet Shahwan. In seiner Familie, sagt er, könne man gut verstehen, „dass ältere Menschen die Unvernunft von so manchen jungen Leute kritisieren, die sich nicht an die Einschränkungen zu Zeiten der Pandemie halten.“

Drängt sich die Frage auf: Wie geht man mit der Pandemie und ihren Auswirkungen um, wenn man wie Shahwan als Flüchtlingskind unter gefährlichen Umständen in ein fremdes Land kam? „Mit Respekt und Vernunft, auf keinen Fall mit Panik“,  antwortet Shahwan Borto sofort. Und ergänzt: „Wir wissen, was es bedeutet, selbst von Gefahr bedroht zu sein. Wir finden es wichtig, ein Solidaritätsgefühl zu entwickeln – und Mitgefühl mit anderen zu haben.“

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