KunstStücke

Happy End im Jugendstil

Mit mir in eine Ausstellung zu gehen – ich sage nur: Bring Geduld mit! Ist also nicht für jeden eine Freude, da ich (für andere) ewig brauche, bis ich mir alles angesehen und in mich aufgenommen habe. Ausnahme: Es hängt nur Kunstschrott herum, da bin selbst ich schnell durch. Weiß man aber im Vorfeld nicht, da manche Ausstellung gar marktschreierisch mit den wenigen sehenswerten Bildern eines Künstlers beworben wird. Mein Tipp hier: Sprechen Sie öfter mit anderen Kunstfreunden oder bei Museumsführungen mit den Fachkundigen. Das hat mir manchen Flop erspart.

Darf ich an dieser Stelle noch einflechten, dass ich meistens allein unterwegs bin, damit mich das Tempo von Begleitpersonen nicht stresst? Geht es Ihnen vielleicht genauso?

Mein Verweilen in Werkschauen wird übrigens durch die segensreiche Erfindung von handlichen Klappstühlen unterstützt. (Im Museum Wiesbaden finden sich diese Helfer im Erdgeschoss an einem der Ausgänge des Vortragssaales.) Stundenlanges Stehen und Sich-Vorbeugen vor Gemälden etc. finde ich wahnsinnig anstrengend, es sollte allerdings keine Ausrede dafür sein, mit gezücktem Smartphone in zehn Minuten durch eine Ausstellung zu rennen, weil die Kondition – geistig, physisch – zu mehr nicht reicht. Ich erlebe das immer wieder, verstehen kann ich es nicht. Mir fehlt da die Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, zuzulassen, dass ein Dialog mit dem Werk entsteht, dass sich etwas einprägt, einschreibt, als inneres Bild abrufbar wird. Dass eine Verbindung geschaffen wird durch die Geschichte, die ein Kunstobjekt zu erzählen vermag. Dass, wenn man so möchte, ein kreativer Austausch aufkommt, der die eigene Phantasie als Mitspieler braucht. Und Zeit, ja, gerade diese. Das Verweilen. Das Stillwerden.

Heinrich Vogeler, Abschied, um 1898, Öl auf Leinwand, Museum Wiesbaden, Leihgabe Privatbesitz (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Gut erfahren lässt sich das anhand von gleich zwei Werken Heinrich Vogelers (1872–1942), die in der Dauerpräsentation Jugendstil hängen, der Sammlung und Schenkung von Ferdinand Wolfgang Neess. Für jemanden wie mich ist diese ungeheure Menge und Vielfalt schöner Exponate unmöglich in einem Durchgang zu schaffen. Ich brauchte insgesamt sechs Besuche, vielleicht sind es sogar sieben, bei den filmischen Beiträgen gibt es noch Lücken. Stets entdecke ich schon Gesehenes wieder neu. Die Vogelers hängen ziemlich gegen Ende der Präsentation, einmal ist es der „Abschied“, um 1898 entstanden, links daneben die „Heimkehr“, mit der Datierung war man sich sicherer, 1898. Vogeler, der sog. Märchen-Maler. Doch, dies als Randnotiz, er ist weitaus mehr als das, als Person, als Kunstschaffender. Seine frühen Werke haben einen Sonderstatus, sie gelten als präraffaelitisch und mögen diese wertende Zuschreibung mitbedingen. Sie besitzen jedenfalls einen ganz eigenen Zauber, sind bezaubernd im Wortsinn, transportieren spürbar Gefühle wie Sehnsucht, Liebe, sie berühren.

So nimmt mich zunächst das Bild „Abschied“ gefangen. Ich kann nicht weitergehen, der Zauber wirkt. Da sitzt in Verzweiflung und Abschiedsschmerz zusammengesunken eine Frau auf einer Steinbank, das Gesicht in den Händen verborgen. Von ihr abgewandt, aber noch nah, steht ein Ritter in Montur, den behelmten Kopf gesenkt. Mit den Fingerspitzen der linken Hand berührt er sacht ihren Nacken, wie zum Trost. Darüber die Dämmerung, ungemein symbolisch, denn hier dämmert das Ende der Gemeinschaft als Paar herauf. Eine Trennung auf unbestimmte Zeit oder im Todesfall des Ritters für immer steht bevor, die letzten kostbaren Minuten zu zweit laufen ab. Kann einem solch ein Bildmotiv nicht treffen? Einfangen, innehalten lassen? Ich überlege, was man den beiden schmerzlindernd zurufen wollen würde. Nichts passt. Alles zu banal, alles nur hohle Phrasen. Die Trost- und Heillosigkeit der Szene wird auch nicht von den zarten Röslein zu Füßen des Paares gemildert oder dem grandiosen Blick ins weite Land, den der balkonartig erhöhte Standort freigibt. Selbst vor schönster Kulisse ist Leiden eben nur eines, nämlich Leiden. Mir fällt zum Schluss der sorgsam gestaltete Rahmen ins Auge, die üppigen Rosen oben, und, ach, ich entdecke im Jugendstilornament unten, ein wenig versteckt, ein kleines geschnitztes Herz.

Heinrich Vogeler, Heimkehr, 1898, Öl auf Leinwand, Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Seufzend stehe ich auf und rücke meinen Klappstuhl nach links zum nächsten Bild, um mich dessen Betrachtung zu widmen. Es erscheint mir wie ein Licht in dunkler Nacht, wie das glückliche Ende des unsäglichen Dramas nebenan. Die „Heimkehr“. Allein der Titel ist für mein von Mitgefühl erfülltes Gemüt Balsam und Erleichterung zugleich, ich atme geradezu auf. Ich erlaube es mir, dieses Gemälde als Vogelers Antwort auf die bange Frage eines Wiedersehens des auseinandergehenden Paares zu denken. Eine gute Idee der Verantwortlichen, die zwei Bilder nebeneinander zu hängen, eine sensible Geste, die ich zu schätzen weiß. Wieder umgibt ein ähnlich prachtvoller Rahmen und mit dem schon bekannten Herzchen unten die Darstellung eines Ritters und seiner Dame – dieses Mal in inniger Pose, sich begrüßend, umarmend. Drumherum eine parkähnliche Anlage, sanftes, frisches Grün, Steinbank, Rosenbäumchen und -strauch, Birken, im Hintergrund weitere Bäume, bezeichnend ist das doppelte Vorhandensein dieser Requisiten. Gott, tut mir das Bild gut! Diese Hinwendung der beiden zueinander und der friedliche, blühende Garten lassen mich aufatmen. Weg ist die Ungewissheit einer Wiederkehr, der physisch spürbare Schmerz, die Ausweglosigkeit von Bild eins.

Ich danke dem Künstler still für das zweite Bild, für den guten Ausgang des Abschiedsdramas. Ich hätte das anders nicht aushalten wollen, es hätte mich nicht nur am Abend nach dem Besuch der Jugendstil-Sammlung, sondern tagelang verfolgt, stets mit Bild eins vor meinem inneren Auge und der Frage: Gab es ein Wiedersehen?

Ich reiße mich los von diesem intensiven Fortsetzungsroman in Öl auf Leinwand, das Gesehene hat mich bewegt, sich mir eingeprägt. Ein Museumsangestellter verrät mir, wie spät es ist. In meiner Versunkenheit habe ich die Zeit völlig vergessen.

Lust auf mehr? Der Kalender des Museums bietet am 26.11. eine Führung zu „Französischen Künstlern des Jugendstils“.

Anne-Marie Djaković


Zur Person
Anne-Marie Djaković, Dr. phil. und M. A., ist zurzeit freischaffend im Bereich Textarbeit und Lektorat tätig, sie engagiert sich bei Projekten rund um Literatur, Kunst und Kultur. Die Kunstfreundin und Freizeitgärtnerin mag intelligente Kinofilme und schätzt gute Literatur. Beim Gewinnspiel „NovemberFlash“, mit dem die Freunde im vergangenen Jahr an den Start gingen und in diesem Jahr eine neue Folge anbieten, gewann die Mainzerin die Kuratorenführung durch die Ausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ mit Dr. Roman Zieglgänsberger. (red)

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