KunstStücke

Bretonische Magie

Das Museumsportal fällt zu, das Weltentheater bleibt draußen. Ich atme auf. Seit Wochen trage ich die Erinnerung an ein Bild mit mir herum, es hat sich in meinen Geist eingebrannt, seit ich es das erste Mal gesehen habe. Solche Werke gibt es, sie lassen einem nicht mehr los, vielleicht nie wieder. Für mich ist das pure Magie. Da wird etwas Teil von mir, prägt sich mir ein, weil es mich fasziniert. Oder, in der Sprache der Zauberkunst: Es belegt mich mit einem Bann. Ob sich der für das Werk verantwortliche Künstler das so gedacht hat? Es beabsichtigt hat? Stand er am Ende des Schaffensprozesses selbst unter dem Bann seines – in diesem Fall – Gemäldes? Man kann ihn nicht mehr fragen, Ludwig Ferdinand Graf ist längst nicht mehr unter uns. 1868 in Wien geboren, 1932 dort gestorben, transportieren ihn seine Bilder jedoch über die Zeit, über alle Zeiten hinweg, in die jeweilige Gegenwart und hängen auch in der Jugendstilsammlung des Museums Wiesbaden.

Beim Neujahrskonzert, das die Freude am 10. Januar 2023 in der Jugendstilausstellung des Museums Wiesbaden ausrichteten, ein vielbeachteter Blickfang: das „Bretonische Mädchen“ als kraftvolle Kulisse für den Mand-Olbrich-Konzertflügel. Darauf bot Pianistin Prof. Cordula Hacke zusammen mit Violinistin Yumiko Noda eine Musikauswahl klassischer Stücke um 1900, mit der sie die Gäste des Neujahrskonzerts begeisterten. (Foto: Josh Schlasius)

Das von mir gemeinte Bild findet der Kunstflaneur im Raum mit dem Mand-Olbrich-Konzertflügel, Musikinstrument und Kunstwerk zugleich, dem Museum 2022 von Danielle Neess großzügig als Leihgabe überlassen. Dass Dinge eine Seele haben können, ließ sich am 10. Januar beim Neujahrskonzert der Freunde in besagtem Raum erleben. Klavier plus Violine, gut, das kennt man, aber dieses Schmuckstück von Flügel plus Violine in dieser Umgebung, das ist ein Erlebnis. Wie es, je nach Sichtweise, das Schicksal, der so genannte Zufall oder eine höhere Fügung will, sitze ich beim Konzert „meinem“ Bild genau gegenüber, es lässt mich nicht aus den Augen, das „Bretonische Mädchen“. Es leuchtet mir entgegen. Ich fühle mich hypnotisiert. Schließe ich, um die Musik intensiver wahrnehmen zu können, meine Augen, schalte also den Sehsinn vorübergehend aus, werde ich das Mädchen trotzdem nicht los. Ich weiß, dass es mich von der Wand herab anschaut, ich weiß genau, wie es aussieht, Gesicht, Kleidung, Farbgebung. Selbst jetzt, wo ich zu Hause an meinem Laptop sitze und das hier schreibe, drängt sich das „Bretonische Mädchen“ beharrlich in mein Bewusstsein, drängt sich mir auf.

Der bretonische Zauber wirkt: Das Ölgemälde „Bretonisches Mädchen“ (1893/94) von Ludwig Ferdinand Graf (1868–1932) aus der Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess kann sich über viele Fans freuen. (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

1893/94 von Graf gemalt, Öl auf Leinwand, 2021 von Danielle Neess erworben, soweit die nüchternen Daten, selbst der Titel ist harmlos. Nichts bereitet den Betrachter auf die Faszination vor, die von dem Bild ausgeht. Graf als Schöpfer verdient alle Hochachtung dafür, seinem Sujet so viel Kraft, Substanz, Charisma verliehen zu haben, ihm Leben eingehaucht zu haben. Die künstlerische Umsetzung an sich braucht nicht viele Worte, sie ist meisterhaft.
Das sind andere Objekte sicher auch, nur: diese Magie! Je länger und öfter ich mich auf das „Bretonische Mädchen“ einlasse (Sie können sich denken, dass ich inzwischen mehrmals davor verweilt habe), desto genialer finde ich es, desto begeisterter bin ich davon. Stichwort „begeistert“, darin steckt nicht umsonst „Geist“. Denn geistergleich leuchtet das Mädchen aus der Dunkelheit hervor, die es umgibt. Tiefblau ist ein Teil der Tracht, die es trägt, schwarz gehalten ist der Bildhintergrund, der Rahmen dunkelbraun. Davon heben sich in kontrastreichem Weiß Hals- und Schulterpartie sowie die schwungvoll gestaltete Haube ab. Und vor allem – das Gesicht. Die Klarheit, fast Strenge der Darstellung, die aller Verspieltheit oder Rüschenhaftigkeit entsagt, denn in diesem Bild und bei diesem Kind ist nichts unbefangen verspielt oder prinzessinnenhaft verrüscht, macht vor dem Gesicht nicht Halt. Blass und vollkommen in seiner Ebenmäßigkeit, mit hellen Blauaugen (man verzeihe mir, dass ich jedes Mal an die wasserblauen Glasmurmeln denke, mit denen ich in meiner Kindheit gespielt habe), ohne jede Mimik oder Gefühlsregung, wirkt das Mädchen in sich zentriert und abwartend. Diese Mischung aus zarter Puppenhaftigkeit und innerer Festigkeit irritiert mich. Diese kleine Bretonin ist zugleich ausdruckslos und ausdrucksvoll, seelenvoll, was eine seltsame Spannung erzeugt. Wer bist du, möchte ich am liebsten fragen. Ich schaue das Mädchen an, es schaut zurück, ein interessantes Wechselspiel, fast ein psychologisches Experiment: Wer wendet den Blick zuerst ab?

Sehr gut lässt sich zudem das Phänomen wahrnehmen, dass einem hier der Blick der gemalten Person folgt, egal von welchem Winkel aus sie begutachtet wird. Ich habe das getestet. Probieren Sie es einmal selbst aus.

Aug’ in Aug’ mit dem „Bretonischen Mädchen“ in der Jugendstilausstellung Schenkung F.W. Neess im Museum Wiesbaden. (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Nicht abschütteln kann ich den Eindruck des Geisterhaften, des Spuks. So etwa stelle ich mir solche Phänomene vor, die in Schlössern und Burgen zu beobachten sind, glaubt man deren Hausherren. Ein unglückshaft verstorbenes Kind, das keine Ruhe findet und daher dafür empfänglichen Menschen des Nachts erscheint, gekleidet in die für seine Zeit übliche Tracht, lautlos leuchtend, mit Augen, die einem nicht mehr loslassen. Vorbei ist es da mit der inneren Ruhe dessen, der dies erlebt, vorbei mit der vermeintlichen Unerschütterlichkeit und der langweiligen Coolness. Grafs „Bretonisches Mädchen“ muss zumindest mir aber nicht (auch noch) als Spuk erscheinen, obwohl dafür hervorragend geeignet, um mich nachhaltig zu beeindrucken, mich zu berühren. Mich nimmt schon das Bild mit. Es sei Ihnen hiermit ans Herz gelegt für Ihren nächsten Besuch der Jugendstil-Sammlung. Und sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt …

Anne-Marie Djaković


Zur Person
Anne-Marie Djaković, Dr. phil. und M. A., ist zurzeit freischaffend im Bereich Textarbeit und Lektorat tätig, sie engagiert sich bei Projekten rund um Literatur, Kunst und Kultur. Die Kunstfreundin und Freizeitgärtnerin mag intelligente Kinofilme und gute Literatur. Seit 2020 ist die Wahl-Mainzerin Mitglied bei den Freunden. Sie wertschätzt das Museum Wiesbaden als „zweites Zuhause“, in dem sie gerne bei den Jours fixes oder Künstlergesprächen auf Gleichgesinnte trifft. (red)

 

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