KunstStücke

Interaktion mit Weiß

Pläne sind gut, aber mitunter ist das, was sich aus einer Abweichung davon einfindet, erheblich besser. Unter uns gesagt: Ich bin im Grunde keine Planerin, ich lasse das Leben – und die Kunst – auf mich zukommen. So betrete ich das Museum Wiesbaden an einem späten Vormittag mit der Absicht, mich ein wenig mit Otto Ritschl zu befassen. Parallel zur Ausstellung im Kunsthaus sind irgendwo im Erdgeschoss Werke aus den 50er Jahren zu sehen. Da ich nicht genau weiß, wo, spreche ich zwei Aufsichtspersonen an. Die beiden können nicht weiterhelfen, hier unten seien nur Pechstein und Fruhtrunk. Ich weiß, dass das nicht stimmt, sage höflich, aber innerlich unwillig danke und lasse sie zurück. Schließlich gerate ich in den Ritschl-Raum, der Funke springt nicht über. Nicht schlimm, dann eben zu Rebecca Horn, deren „Rabenbaum“ ich neulich bei einer Mittwochs-Kunstpause grandios fand. Doch auch dazu kommt es nicht. Ein höherer Wille zieht mich magisch, einem Sog gleich, in einen benachbarten Saal, ich biege quasi vorher ab.

Angela Glajcar, In-situ-Installation „Terforation 2017-002“, Papier, Halterung aus Metall und Kunststoff, Blick auf den kleineren Teil der Installation vom Eingangsbereich kommend. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Mir leuchtete da nämlich etwas schon von Weitem entgegen, das ich von fern als eine Art riesigen, mehrstufig aufgebauten vertikalen Schattenwurf wahrnahm. Etwas hängt von der Decke, Vorhangbahnen gleich, aber nicht weich und in einem sanften Lufthauch wehend, sondern dichter und starr. Neugierig betrete ich den Raum. Zwei Installationen, aha, eine kleiner, die andere, rechts von mir, größer. Klein ist relativ zu verstehen, denn selbst diese hängt meterhoch von der Decke. Ich fühle mich als Mensch auf einmal unbedeutend. Die Bahnen bestehen, wie ich jetzt sehe, aus einem dickeren Papier mit Ausrissen, jede anders. Gestaffelt angeordnet, entstehen durch den Lichteinfall weiche Schatten. Ich husche kurz zum Info-Täfelchen an der Wand. Ich will wissen, was mich fasziniert, will einen Künstlernamen, oder eher, meine Vermutung bestätigt sehen, und einen Werktitel. Angela Glajcar, lese ich, „Terforation Wiesbaden 2017-002“. 90 Papierbahnen – die ich nicht nachzähle – wurden verarbeitet bzw. zurechtgerissen. Ich befinde mich in einem Zustand totaler Bewunderung. Das hier ist hot stuff. Der Funkenflug, den ich brauche, um mit einem Werk warm zu werden, ist kaum auszuhalten. Ich bin begeistert.

Angela Glajcar, In-situ-Installation „Terforation 2017-002“ (Detail), Papier, Halterung aus Metall und Kunststoff, Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Von wegen hot stuff … Seltsamerweise erlebe ich das Schattenspiel als lichtwarm: gelblich, hellgrau, eine zart gestufte Palette. Blicke ich allerdings in die beiden Konstruktionen aus Papierbahnen hinein, empfinde ich sie als fast kühl, geradezu frisch. Ach was, ich schaudere leicht, da sich mir Assoziationen von ewigem Eis, Gletscherspalten, von Firnschnee aufdrängen. Verändere ich meine Position vor der kleineren Terforation, ändert sich der Einblick, sie zieht mich in sich hinein. In freier Natur würde man vielleicht, mit dem nötigen Abenteuergeist ausgestattet, in diese Gletscherspalten, dort aus Eis, hier aus Papier, hineinsteigen. Aber so stehe ich still vor diesem Ganzen, vor diesem menschengemachten Geheimnis. Und mit einer Anmutung von erhabener Ewigkeit hängen die beiden Konstruktionen da, drängen sich nicht auf, biedern sich nicht an, überlassen es dem Besucher, sie zu entdecken und sich auf sie einzulassen. Dass Letzteres stattfinden muss, ist Voraussetzung, denn mal eben schnell durch den Raum jagen, das Smartphone zwecks Foto gezückt und viel schneller wieder hinaus, das wird dieser Situation, dieser physisch zu machenden Erfahrung, nicht gerecht. Es sei angemerkt, dass ich das bei all meinen Aufenthalten bei den an einer Hand abzuzählenden Mitbesuchern erlebt habe. Schade, Chance vertan.

Angela Glajcar, In-situ-Installation „Terforation 2017-002“ (Detail), Papier, Halterung aus Metall und Kunststoff, Blick auf beide Teile der Installation. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Die Begehbarkeit der größeren Staffelung ist möglich, sie ist auf einer Seite offen. Ich ducke mich unter überhängenden Papierstreifen durch, zackig-fetzenhaft sind sie, ich denke an riesige Eiszapfen. Drinnen in der aus Papier gerissenen Höhlung komme ich mir vor wie ein Kind, das sich versteckt und dabei unverhofft in das magische Reich des Schneekönigs gerät. (Etwas, das ihm bei seiner Rückkehr natürlich niemand glauben wird.) Dazu trägt bei, dass die Sicht in die reale Welt, ins Museum, durch den Überhang versperrt ist, allerdings nicht gänzlich. Ermöglicht und aufrechterhalten wird dadurch die physische Erfahrung des Sich-Einfügens in die Konstruktion, der Kunst-Betrachter wird Teil des von ihm betrachteten Werks. Diese Evolution braucht, siehe oben, Zeit und die Bereitschaft, sich dem auszusetzen, was hier zu spüren ist. Man nimmt sich gleichsam selbst mit in das Werk, und das mit ihm Erlebte, das sich eingeschrieben hat als inneres Bild, als Emotion, mit nach Hause. Kunst für Fortgeschrittene, denke ich, für Menschen, die das Alleinsein mit einem Werk genießen können.

Angela Glajcar, In-situ-Installation „Terforation 2017-002“ (Detail), Papier, Halterung aus Metall und Kunststoff, Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Es ist gefühlt vollkommen ruhig in dieser von Glajcar geschaffenen Illusion einer Gletscherspalte, endlich einmal ruhig in einer sonst permanent lauten Welt. Ich finde das erholsam. Die Papierbahnen – sie sind einfach da, überlassen sich mit ihren Ausrissen, ihrem Schattenspiel, ihrer simplen Anwesenheit in einem Raum dem Betrachter. Im Fall der Größeren dem, der sich in sie einstellt, vielleicht vielmehr hineinwagt, hineinbewegt, der den Schritt aus dem soliden Alltag, aus dem Vertrauten, in eine unbekannte Welt unternimmt, ein Risiko auf sich nimmt. Es hat etwas Monumentales, Ewiges an sich, dieses weiße Schweigen.

Die Künstlerin umrahmt von ihrem Werk: Angela Glajcar demonstriert Jana Dennhard, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Museum Wiesbaden, das Schattenspiel ihrer Papierskulptur „Terforation 2017-002“ (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Wie Sie merken, haben es die Papierstaffelungen in sich. Sie sind nicht nur schön, was ich für einen wichtigen Aspekt von Kunst halte, sondern zugleich Ausdruck hoher Kreativität und Genialität. Sie sind aufgeladen mit Impulsen, sie lösen etwas aus: emotional, gedanklich, physisch. Idealer geht es nicht. Das ist Interaktion zwischen etwas kunstvoll Geschaffenem und Mensch ohne Touchscreen, Ton und Kabel.

Sie schafft mit ihren Arbeiten weltweit atmosphärische Orte: Die Bildhauerin Angela Glajcar als Teil ihrer Papierskulptur „Terforation 2017-002“ im Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Für diesen Essay, ich will es so nennen, da ein rein sachlicher Bericht über dieses Werk nicht gelingen kann, war ich insgesamt drei Mal vor Ort. Mich hat das Erlebte nicht losgelassen. Und tja, was soll ich sagen? Bei jedem Besuch war die Wahrnehmung der Installation eine andere. Beim letzten Mal setzte ich mich eine Zeitlang davor, ich als drittes Element. Ich schaute sie mir bloß an, nicht mehr, einer Meditation gleich. Ihre Stille machte mich völlig still. Ich ließ mich darauf ein.

Anne-Marie Djaković


Zur Person
Dr. Anne-Marie Djaković, zurzeit freischaffend im Bereich Textarbeit und Lektorat tätig, engagiert sich bei Projekten rund um Literatur, Kunst und Kultur. Seit 2020 ist die Wahl-Mainzerin Mitglied bei den Freunden des Museums Wiesbaden. Sie wertschätzt das Haus der Kunst und Natur als „zweites Zuhause“, in dem sie gerne bei den Jours fixes oder Künstlergesprächen auf Gleichgesinnte trifft. (red)

 

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