KunstStücke

„Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“

Wenn die Seele hungrig ist, macht auch ein mit schönen Speisen gefüllter Teller nicht (mehr) satt. Dann bedarf es der Seelennahrung, quasi eines geistigen Schokokuchens, am besten mit extra viel Schlagsahne darauf. Oder, je nach Geschmack, einer geistigen großen Tüte knuspriger Chips, nur bitte nicht die fettreduzierte Version. Mit anderen Worten: Es muss Kultur her, für mich am liebsten Kunst.

War in der Ausstellung ,,Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ zu sehen: Lovis Corinth, Walchensee – Auf der Terrasse, 1922/23, Öl auf Leinwand (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Eines Morgens im August nutze ich das 9-Euro-Ticket für einen Ausflug nach Mannheim. Auf dem Plan steht die von mir geschätzte Kunsthalle, genauer die Kuratorenführung mit Dr. Thomas Köllhofer durch die Ausstellung „Liebermann, Slevogt, Corinth. Druckgraphik und Zeichnung“. Diese war Ende Juli das Ziel einer Tagesfahrt der „Freunde“ gewesen, ich konnte nicht mit, die Familie … Dafür jetzt! Mit Müh und Not schaffe ich es, trotz vor sich hin schleichender Züge pünktlich zu sein. Die Gruppe ist groß und mit Interesse und viel Kommunikation bei der Sache, Herr Dr. Köllhofer hoch erfreut über so viel Teilnahme. Es läuft super. Ich stehe mittendrin und spüre auf einmal, wie in mir ganz viel Glück aufsteigt: Darüber, heute hier sein zu können, vom Wissen eines anderen zu lernen, in dieser Gruppe zu sein mit Gleichgesinnten, d. h. Kunstbegeisterten, wie ich es bin. Das Glücksgefühl breitet sich aus. Würde mich jetzt jemand fragen, wie ich mich befinde, dann würde ich sagen: Ich könnte zerspringen vor Glück. Auch wenn das kitschig klingt. Wahrscheinlich strahle ich gerade äußerlich. Wenn ich eine Farbe dafür wählen dürfte, wäre es Rosa, von hell bis intensiv. Offenbar schmeckt meiner Seele, meinem Wesen, dieser mit Inhalt, Geist und Begeisterung gefüllte Teller bestens. Von so etwas zehre ich, es trägt mich durch manchen Tag.

Nach der Führung schaue ich mich in der Ausstellung noch ein wenig um, plaudere mit Teilnehmern. Max Slevogts Darstellungen zur „Zauberflöte“ sind sicher ein Glanzlicht, ein Verweilen lohnt sich. Später will ich mir im Museumsshop Kunstpostkarten mitnehmen, die Auswahl ist groß. Für mich haben diese Karten nicht nur Souvenircharakter bzw. werden gerne gleich vor Ort an liebe Menschen geschrieben. Sie sind mir ein Anker im Alltag, erinnern an ein schönes Erlebnis, an einen gelungenen Ausflug. Sie lassen mich das empfundene Hochgefühl in abgeschwächter Form noch einmal spüren, etwa so wie ein verblasster Parfümduft in einem Kleidungsstück das abendliche Ausgehen zurückholt.

An der Kasse steht dann eine kleine Box mit bunten, recht schlichten Karten: farbiger Hintergrund, davor Zitate von Künstlern. Mir fällt silberne Schrift auf beruhigend taubenblauem Grund ins Auge, ich lese einen Ausspruch von Pablo Picasso: „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“ Ja, denke ich, lieber Pablo, das ist wahr. Ich halte dich bestimmt nicht für den größten Philosophen, sondern für einen ganz und gar unleidlichen Genossen, aber da hast du etwas erkannt. Kunst macht nicht nur die Seele wieder satt, wie ich es bei mir oft erlebe, sondern spült genauso das staubige, kratzige Grau von unserem Wesen, das sich mitunter über uns legt, wäscht uns wieder rein von zu viel Nüchternheit, Rationalität, Effizienz, Profanität, Verpflichtung und Pflichterfüllung. Kunst spricht zur Seele, sie spricht etwas Höheres in uns an, vermittelt eine andere Dimension von Leben, vom Sein, sie weist darauf hin und drückt aus, dass wir mehr sind als atmende Körper. Sie erbaut, erfreut, erfrischt, ernährt, sie heitert auf, beglückt, erhebt uns, sie heilt und inspiriert. Sie entstaubt die Seele, sodass deren bunte Farben, ähnlich den Fenstern von Kathedralen, durch die das Sonnenlicht scheint, neu aufleuchten können – und damit wir.

Vielleicht, sinniere ich weiter, die Karte mit Picassos Sentenz in der Hand haltend, lässt sich Kunst in Abwandlung eines Zitats von Ben Hecht als rettendes Floß verstehen, wenn die Seele im Alltag schiffbrüchig zu werden droht. Dann mag ein Museum der sichere Hafen sein, der die Beinahe-Schiffbrüchigen für eine Auszeit, mal länger, mal kürzer, aufnimmt und mit seinen Schätzen oder einer Führung, einem Vortrag, wieder auf Kurs bringt.

Zu Hause lege ich die blaue Karte auf meinen Schreibtisch. Ich schaue darauf und erinnere mich.

Die Kunsthalle Mannheim, die regelmäßig Ziel von Tagesfahrten im Rahmen des Freunde-Halbjahresprogramms ist, zeigt „Liebermann, Slevogt, Corinth. Druckgraphik und Zeichnung“ bis zum 20.11.2022. Die nächste Führung mit Dr. Thomas Köllhofer ist laut Programm am 19.10. um 18.30 Uhr (www.kuma.art). Wer nicht hinfahren, sich aber vorfreuen möchte: Im Herbst 2023 zeigt das Museum Wiesbaden einige Werke von Liebermann, Slevogt und Corinth in der Ausstellung „Gemischtes Doppel. Die Molls und die Purrmanns – Zwei Künstlerpaare der Moderne“. Und bis vor kurzem war Corinths „Walchensee – Auf der Terrasse“ in „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ zu sehen.

Anne-Marie Djaković


Zur Person
Anne-Marie Djaković, Dr. phil. und M. A., ist zurzeit freischaffend im Bereich Textarbeit und Lektorat tätig, sie engagiert sich bei Projekten rund um Literatur/Kunst/Kultur. Die Kunstfreundin und Freizeitgärtnerin mag intelligente Kinofilme und schätzt gute Literatur. Beim Gewinnspiel „NovemberFlash“, mit dem die Freunde im vergangenen Jahr an den Start gingen und in diesem Jahr eine neue Folge anbieten werden, gewann die Mainzerin die Kuratorenführung durch die Ausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ mit Dr. Roman Zieglgänsberger. (red)

 

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