Kunstvoll und Naturnah

Ein Erbe aus kolonialer Zeit

Im Jahr 2024 plant das Museum Wiesbaden eine Sonderausstellung unter dem Titel „Vom Kap bis zur Namib – das südliche Afrika“. Gezeigt werden soll darin ein groß angelegter Streifzug durch einen vielfältigen Naturraum, der seit Jahrtausenden auch von Menschen bewohnt wird. Neben Abzügen von steinzeitlichen Felsbildern und archäologischen Originalfunden aus den Forschungen der Goethe-Universität Frankfurt sowie zahlreichen naturwissenschaftlichen Leihgaben mehrerer Kooperationspartner wird dabei die eigene Sammlung fokussiert. Insbesondere der ethnologischen Sammlung gilt es Aufmerksamkeit zu schulden. Durch sie lassen sich Einblicke in die Geschichte der Gesellschaften Namibias und Südafrikas präsentieren und die Bedeutung der deutschen Kolonialzeit erzählen. Im Besonderen wird dabei auf die Kultur der San hingewiesen, den berühmten Jägern und Sammlern.


Die San – Sprachverwirrung um Fährtensucher, Nomaden und Vertriebene?

Seit tausenden von Jahren leben Gemeinschaften in den Gebieten des südlichen und südöstlichen Afrikas, die eine gemeinsame Sprache eint. Diese Gemeinschaften der Khoisan sprechen eine spezifische Klicksprache, bei der nicht nur klingende Laute, sondern auch Schnalz- und Knackgeräusche Bedeutung tragen. Diese Sprachfamilie gehört zu den komplexesten überhaupt und zeugt von einem hohen Alter. Die Khoisan wiederum können gemeinhin aufgrund ihrer Lebensweise in die Khoikhoi und die San unterteilt werden – während erstere nomadische Viehhirten sind, leitet sich der Begriff San von der eher abwertend gemeinten Umschreibung durch die benachbarten ǀAwa-khoen, auch bekannt unter dem Khokhoi-Begriff Nama, ab. Es heißt übersetzt „diejenigen, die Dinge vom Boden auflesen“.

Obwohl abwertend gemeint, bewiesen die San doch über Jahrtausende hinweg ein meisterliches Geschick in genau dieser Fähigkeit: Sie gelten bis heute als die besten Fährtensucher der Welt, deren Fähigkeiten ihnen auch das Überleben in den trockenen und lebensfeindlichen Regionen rund um die Kalahari ermöglichten.

Foto eines modernen San-Jägers (Foto: Andy Maano, CC-BY-SA-4.0)

Ursprünglich waren die Vorfahren der heutigen San in großen Teilen Afrikas ansässig. Und auch im südlichen Afrika reicht etwa die Tradition der Felsbilder weit zurück, die wir beispielsweise aus den südafrikanischen Drakensbergen kennen. Auch wenn sie schwer naturwissenschaftlich zu datieren sind, scheinen einige der ca. 35.000 Felsbilder bis zu 40.000 Jahre alt zu sein.

Digitale Reproduktion eines Felsbildes mit Jagdszene aus AiAiba im Erongo-Gebirge, Namibia (Foto: Peter Breunig)

Trotz der massiven Verdrängung der San durch die Einwanderung der Bantu-Völker in das südliche Afrika bezeugen bis zur Wende des 19. Jahrhunderts ethnographische Berichte die Kontinuität dieser Tradition.

Gemeinschaften wie die San wurden vertrieben, versklavt und oftmals erbarmungslos gejagt: So griffen gerade die niederländischen Siedler auf San als quasi Leibeigene zurück. In den deutschen Besitzungen Deutsch-Südwestafrikas erging es den San nicht besser. Als die mobilen Jäger und Sammler zunehmend unter Druck gerieten, begannen sie sich mit gezielten Angriffen auf Siedler und Arbeiter zu wehren. Erst 1915 wurde das Erschießen eines San unter Strafe gestellt – davor, gerade in den Phasen militärischer Auseinandersetzungen zwischen deutscher Schutztruppe und anderen Gemeinschaften wie den Herero und Nama, galten San als Freiwild und wurden auf Sicht getötet.

Viele flohen daraufhin und nach dem ersten Weltkrieg fanden sich kaum noch San in Namibia. Zwar besserte sich nach den Weltkriegen die Situation insofern, dass sie nicht mehr direkter Gewalt ausgesetzt waren. Doch galt die Lebensweise der San in der Perspektive „moderner“ Gesellschaften als ebenso rückständig wie die der meisten rezenten Jäger und Sammler. Auch durch die Errichtung von Naturschutzgebieten und die Einführung strenger Jagdgesetze zerfiel zusehends die Lebensgrundlage der einstigen Überlebenskünstler. Heute leben San nur noch selten in der angestammten Weise. Die modern überfärbten kulturellen Elemente sind meist mit einem bunten Wirrwarr aus Einflüssen verknüpft, der stark dem florierenden Ethnotourismus angepasst ist.

Moderne Holzpuppe, einen Jäger der San darstellend. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Nur wenige San sind noch versierte Fährtensucher – und wenn, dann meistens für ausländische Jäger, Safari-Touristen oder in ganz seltenen Fällen auch einmal für Wissenschaftler. Die einstigen Techniken und Fähigkeiten gehen zusehends verloren.

Warum sammelte man ethnologische Objekte?

Im Zuge des Kontaktes mit Europäern und anderen Gruppen wechselten häufig Objekte den Besitzer. Händler kauften den San Waren ab und boten dafür im Gegenzug Dinge von Interesse  wie Objekte aus Eisen an. Auch Forscher sammelten Gegenstände für die Wissenschaft und manche Missionare forderten die Abgabe religiöser Objekte der „heidnischen“ Überzeugungen. Da Letztere sich im Besonderen mit der Kultur auseinandersetzen mussten, gab es aber auch ein wissenschaftliches Interesse an Objekten. Und mitunter plünderten militärische Truppen oder diesen nahestehende Verbände die indigenen Gemeinschaften aus purem Besitzwillen aus oder nahmen die Objekte getöteten San ab.

All diese Formen von Besitzübertragung werden in jüngster Zeit im Rahmen der breit angelegten Debatte um koloniale Kontexte diskutiert. Hier hat es mitunter den Anschein, dass gerade die gewaltsame Aneignung von Objekten in Regionen formaler Kolonialherrschaft den Hauptteil der musealisierten Bestände ausmache. Aber sind wirklich alle Dinge, die heute in deutschen Museen schlummern, Raubgut? Und warum gelangten die Objekte überhaupt aus den Kolonien in deutsche Sammlungen?

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten eigenständigen ethnologischen Museen sich aus ihren Vorläufern herausbildeten, kam schon die Frage auf, wozu eigentlich solche Dinge gesammelt werden sollten. Heutige Forscher reduzieren die damalige Debatte mitunter auf einzelne Ansätze. So betont etwa die in der aktuellen Debatte prominente Prof. Dr. Bénédicte Savoy das damals vorherrschende Rennen um die internationale Vormachtstellung, das sich auch auf die Entstehung von Prestigesammlungen in den europäischen Museen konzentriert.[1]

Schaut man allerdings in die zeitgenössischen Texte, so bemerkt man vielmehr einen ernsthaft geführten Diskurs, in dem dies nur eine von vielen Meinungen war. Beinahe ebenso prominent war: „[d]er Endzweck aller ethnographischen Tätigkeit und damit die allgemeine Aufgabe der ethnographischen Museen kann nur sein: zur Erkenntnis und zum Verständnis unser selbst beizutragen.“ (Richter, 1906)

Im Grunde findet sich hier eben jener Ansatz, der allen modernen Wissenschaften innewohnt: es geht um das Vergleichen – man vergleicht das Bekannte mit dem Unbekannten und gewinnt daraus eine neue, weiterführende Erkenntnis. Und als die Welt Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung zusehends zusammenrückte, paaren sich Faszination für das Fremde und die Sehnsucht nach einer Welt jenseits der Fabriken und Städte miteinander. Entweder, man beschließt nun selbst, in die Fremde aufzubrechen – oder man bringt die Fremde zu sich.

Dieser Ansatz, das Fremde und Unbekannte aus der Welt in die Mitte der eigenen Gesellschaft zu bringen, findet sich in der Zeit um 1900 in zahlreichen reformerischen Ansätzen und er bildet oftmals die Grundlage erzieherischer Ansätze. Auch die Kunst des Expressionismus basiert in weiten Teilen auf Einflüssen aus den Begegnungen mit anderen Kulturen – eindrucksvoll ablesbar etwa an dem Einfluss der Ausstellungen der von Leo Frobenius dokumentierten afrikanischen Felsbilder auf die Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts.[2]

Selbstverständlich gilt es aber hier abzuwägen: Denn auch wenn die Objekte der fremden Kulturen uns bis heute einen weiten Einblick in die Welt jenseits des „Tellerrandes“ gewähren, bedeutet die Ansammlung dieser Objekte in den Depots europäischer Museen mitunter auch gerade das Fehlen identitätsstiftender Dinge bei jenen Gesellschaften, deren Geschichte sie ausmachen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde gehen Digitalisierung, Kooperationsprojekte und offene Kommunikation mit der Aufarbeitung von Museumssammlungen Hand in Hand und stellen das eigentliche Ziel der modernen Debatte um Kulturgüter aus kolonialen Kontexten dar, dem die Restitution symbolträchtiger Objekte als Kür hinzugefügt werden kann.

Die ethnologischen Sammlungen des Museum Wiesbaden entspringen größtenteils den Schenkungen reisender Naturforscher, Missionare und Kaufleuten des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Sie waren es, die meist als Universalinteressierte Objekte aus verschiedenen Bereichen mit in ihre Heimat brachten, bzw. den Institutionen zu Hause zukommen ließen.

Kette aus Insektenkokons der San. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Für das Museum Wiesbaden müssen wir dabei immer von den ethnologischen „Sammlungen“ sprechen. Denn sowohl der Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung als auch der Nassauischer Verein für Naturkunde legten bereits vor ihrem Umzug in das „Neue Museum“ Anfang des 20. Jahrhunderts jeweils eigene ethnologische Sammlungen an. Während die Sammlung nassauischer Altertümer bereits 1844 die ersten Objekte aufnahm – unter anderem Schenkungen des berühmten Arztes und Naturkundlers Ernst Albert Fritze[3] – liegen die genauen Anfänge der Sammelaktivitäten in der „Natur“ noch im Dunkeln. Zudem findet sich heute nur noch eine Sammlung in den Räumlichkeiten in Wiesbaden. Denn 1966 verkaufte die Stadt Wiesbaden die knapp 1000 Ethnologica auf Anraten des damaligen Direktors der Nassauischen Altertümer, ersten hessischen Landesarchäologen und Honorarprofessors in Marburg, Dr. Helmut Schoppa, an die Universität Marburg. Dort sind sie heute noch und werden gerade im Rahmen eines Projektes mit Unterstützung durch das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste gesichtet.[4]

Die sich noch in Wiesbaden befindenden Konvolute zeugen vom breiten Interesse der damaligen Sammler. Gerade für die Objekte der San lässt sich dies eindrucksvoll zeigen:

So finden sich heute etwa 50 Inventarnummern in der ethnologischen Sammlung mit Objekten der San, die von dem ehemaligen Missionar Carl Berger (1871-1962) stammen. Berger, gebürtiger Wiesbadener, verbrachte seine Kindheit und Jugend hier und wurde nach der Mittelschule Bäcker. Doch durch den Tod seines Bruders beschloss er 1892, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und wurde Missionar in der Rheinischen Missionsgesellschaft. 1898 bis 1905 lebte er mit seiner Frau und seinen Kindern an verschiedenen Orten im heutigen Namibia, und er war selbst direkt an den Aufständen und den darauffolgenden Kämpfen 1904 zwischen der deutschen Schutztruppe und den Herero und Nama beteiligt. 1905, unter dem Eindruck der Gewalttaten, bei denen auch seine Frau verschleppt wurde, trat er aus dem Missionsorden aus und ließ sich in Haruchas nieder, wo er bis zu seinem Tod als Farmer lebte.

In den 1970ern und 1980ern kamen aus seinem Nachlass ethnologische Objekte ans Landesmuseum. Schon während seiner Zeit als Farmer war Berger begeisterter Naturwissenschaftler, der an das Museum seiner Geburtsstadt zahlreiche Tierarten sendet – darunter Schildkröten, Spinnen, Schlangen und Skorpione.

Parfumtasche aus dem Panzer einer Schildkröte, mit Lederbändern und Eisenkugeln besetzt. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Über die Herkunft der Objekte wissen wir bisher jedoch noch nichts Genaues. Die Dinge, typische Gegenstände aus der Alltagskultur der San, könnten ein Zeichen für einen regen Austausch sein, den Berger auf seiner Farm in einem fruchtbaren Landstrich am Rande der Kalahari-Wüste mit den Jägern und Sammlern pflegte. So waren Schmuckstücke aus Straußeneiperlen ein typisches Zierobjekt, aber auch eine weit gehandelte Ware.

Kette der San aus Straußeneiperlen. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Im Gegenzug erhielten San mitunter Eisen, das zu Pfeilspitzen oder neuen Schmuckstücken verarbeitet wurde.

Kette der San, Eisenperlen auf Leder. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Das Berger indessen zumindest zu anderen Kolonisten vor Ort weitreichende Kontakte unterhielt, bezeugen auch Bilder aus seinem Besitz, etwa eine Landschaftsdarstellung des bekannten Tiermalers Hans Anton Aschenborn.

Aquarell von Hans Anton Aschenborn – Europäer geht grüßend auf Jäger zu. Museum Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert)

Den genauen Hintergründen gilt es aber noch nachzuspüren. Daher wird es auch Aufgabe sein, in Vorbereitung der bevorstehenden Sonderausstellung die bis heute erhaltenen Archivalien zu Berger zu sichten. Unter anderem kooperiert das Museum Wiesbaden hierbei mit der Archiv- und Missionsstiftung der VEM („Vereinten Evangelischen Mission“), wo sich zahlreiche Berichte und persönliche Aufzeichnungen Bergers befinden. Aber auch die enge Zusammenarbeit mit den San, heutigen Kultureinrichtungen in Namibia und der Austausch mit der Museums Association of Namibia tragen bereits jetzt Früchte bei der Vorbereitung der Ausstellung. Vielleicht wird es so möglich sein, einen tiefen Einblick in die damaligen Lebensumstände in Deutsch-Südwestafrika zu erhalten und mehr über diese Zeit und die damals lebenden Menschen zu erfahren.

Für diese wichtige Aufarbeitung bedarf es großer Anstrengungen. Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst hat sich dazu bereit erklärt entsprechende Sach- und Personalmittel bereitzustellen.

Andy Reymann


  • [1] Bénédicte Savoy, Objekte des Begehrens und das Begehren von Objekten Museumsgeschichte als Kulturgeschichte. 18.–20. Jh.; Antrittsvorlesung, gehalten am Collège de France am 30. März 2017.
  • [2] Vgl. u.a. den vom Museum Giersch der Goethe-Universität, Frankfurt a. M. und dem Frobenius-Institut für kulturanthropologische Forschung, Frankfurt a. M. herausgegebenen Katalog: Frobenius. Die Kunst des Forschens (Petersberg 2019).
  • [3] Vgl. Annalen des Nassauischen Altertumsvereins 1841, 219-220.
  • [4] Vgl. Dagmar Schweitzer de Palacios, Lena Muders, Schabnam Kaviany (Hrsg.), Am Anfang war das Objekt: Die Ethnographische Sammlung der Philipps-Universität Marburg und die Annäherung an ihre Gegenstände (Frankfurt am Main 2019).

Zur Person
Dr. Andy Reymann ist Ethnoarchäologe. Er hat an der Universität Leipzig studiert und an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema des sibirischen Schamanismus und der Anwendung des Begriffes in der Archäologie promoviert. Seit der Promotion forschte er 2016-2019 zum Thema der sozialen Organisation und materiellen Kultur von Krieg und Gewalt in vormodernen Gemeinschaften, gab Lehrveranstaltungen in Frankfurt und war mehrfach als Co-Kurator an Ausstellungen im Landesmuseum Wiesbaden beteiligt. Aktuell ist er am Museum Wiesbaden mit der Aufarbeitung der ethnologischen Sammlung betraut.

 

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