Kunstvoll und Naturnah

Geheimnisvoll und facettenreich

Draußen ist es Herbst geworden. Beschäftigt mit Stufe um Stufe, nimmt einen oben [oder: „im 2. Obergeschoss“] angekommen, Helldunkel gefangen, Bewegung und Laute wirken wie ein Sog. Dünne Linien, leise Töne, Gespinst und leichte, bunte Farbbänder. Ein Schemen bewegt sich. Verhalten staunende Annäherung, der Ursprung des Schattens wird klar. Ertappt und gefangen. Zauberwald. Spiegelwelten. Wie Narziss wurden wir im Oktogon fasziniert in Rebecca Horns Spiegel gezogen, hier fühlen wir uns wie Lewis Carrols Alice im Wunderland, und betreten eine andere Welt.

Robert Seidels Arbeit entstand 2013 für den Zugang zu den neu gestalteten Sälen der Alten Meister im 2. Obergeschoss des Museums. Sie besteht aus Klängen, Objekten, Zeichnungen – „Projektionsskulptur, 4 Projektoren, HD-Zuspieler, Stereolautsprecher, Spiegelwand, Ton“, steht im Katalog. Der Titel: „Grapheme“ – Graphik und Graphit: Bilder und Schrift.

Blick in den sogenannten Kirchensaal des Museums Wiesbaden: Im Vordergrund „Grapheme“ (Detail), Robert Seidel, im Hintergrund vier der mittelalterlichen Skulpturen des Kirchensaals, der zu den Sälen der Alten Meister führt. (Foto: Bernd Fickert)

Ausgangspunkt von Seidels Installation sind Handzeichnungen; sie sind die Grundlage sowohl für die Projektionen als auch für die filigranen Projektionsflächen. Aber die Zeichnungen sind nicht der Ursprung. Die Zeichnungen sind manifest gewordene Erinnerungen und Assoziationen von Orten und Situationen, die der Künstler begangen und erlebt hat. Und so wie nur der Künstler sein Leben erinnert, so bringt jeder einzelne Betrachter sich und seine Gedankengänge in die Installation mit ein. Und nimmt sie wieder mit. Oder lagern sie sich in dem Zauberwald ab? Verdichtet sich mit der Zeit das Gewebe?

Projektoren und Spiegel und Wände sind statisch, aber sie erzeugen Bewegung. Bewegung der Linien und Schwünge, die die vier Projektoren auswerfen. Bewegung der mit Laser ausgeschnittenen Kunststoffgespinste, die von der Decke hängen. Bewegung, die der Betrachter erzeugt. In seinem Spiegelbild und in der Luft, die er bewegt und die wiederum die weißen fragilen Projektionsflächen ins Schweben bringt. Es ist eine Bewegung, die nicht endet.

Robert Seidel (*1977), „Grapheme“, 2013, Projektionsskulptur: 4 Projektoren, HD-Zuspieler, Stereolautsprecher, Spiegelwand, Ton von Heiko Tippelt, Museum Wiesbaden, erworben 2013 (Foto: Bernd Fickert)

Auch die Klänge haben keinen Anfang und kein Ende. Es ist ein Loop, ähnlich dem der sich in Farbe und Licht auf den Wänden und den auseinandergezogenen Kunststoffausschnitten entfaltenden Linien. Die Musik schafft einen eigenen Raum, ganz so wie die tunnelartige Architektur, wie das Halbdunkel mit seinen Lichtreflexen und den farbigen Linien auf Weiß. Klänge und Licht lassen einen Raum entstehen, den man neugierig betritt. Und fasziniert ist. Wie Narziss, der sich selbst staunend im Spiegel erkennt. Der sich verliebt in das eigene Bild, und dessen Selbstliebe ihm zum Verhängnis wird. Alice dagegen treibt die Neugier, sie will weiter, will in die Welt hinter den Spiegel treten. „Wie schön das wäre, wenn wir in das Spiegelhaus hinüber könnten! Sicherlich gibt es dort, ach!, so herrliche Dinge zu sehen! Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen könnte. Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel! Da kann man ja mit Leichtigkeit durch –.“ Wir Museumsbesucher tun es Alice nach und verlassen Seidels Raum, wir begeben uns an neue Orte und in andere Zeiten.

Martina Mauritz


Dr. Martina Mauritz ist Kunst- und Literaturwissenschaftlerin. Im Museum Wiesbaden bringt sie den Besuchern Kunstwerke und Künstler näher – bei öffentlichen oder privaten Führungen. Und wenn sie mal nicht da ist, gibt sie Kunstunterricht an einem Mainzer Gymnasium oder vermittelt in Spanien Studienreisenden die dortige Kunst und Kultur. (red)

 

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