Kunstvoll und Naturnah

Ilya Kabakov und „Der Rote Waggon“

Liebe Freundinnen und Freunde des Museums Wiesbaden,

viele von Ihnen haben im ersten Obergeschoss des Museums schon einmal die Installation „Der Rote Waggon“ von Ilya Kabakov gesehen, auf der Holzbank im Inneren des Waggons Platz genommen und dort merkwürdig sentimentalen Liedern aus den 1930er Jahren gelauscht. Die Installation befindet sich seit 1994 im Museum Wiesbaden, wo sie erstmals 1999 gemeinsam mit dem Künstler im damals noch nicht sanierten „Giraffensaal“ aufgebaut wurde.

Ilya Kabakov, Der Rote Waggon, 1991, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Ilya Kabakov wurde 1933 in Dnepropetrowsk, der heutigen Millionenstadt Dnipro, in der Ukraine geboren. Nach langen Jahren in Moskau, wo er in den 1970er Jahren zu den Begründern der „Moskauer Konzeptualisten“ gehörte, leben er und seine ebenfalls aus der Ukraine stammende Ehefrau und künstlerische Partnerin Emilia heute als US-Bürger im Staate New York.

Der Krieg, mit dem Wladimir Putin die Heimat der Kabakovs seit dem 24. Februar 2022 überzieht, ist schrecklich. Ich glaube, dass die beiden, die sich in ihren Arbeiten immer wieder mit der Geschichte ihres Landes auseinandergesetzt haben, aber schon länger ahnten, dass ein solcher Rückfall in russische Großmachtphantasien nicht auszuschließen sei – doch dazu weiter unten.

Zunächst aber schauen wir uns an: Welche Geschichte erzählt uns Ilya Kabakov mit seiner Installation „Der Rote Waggon“? Vor allem aber: Wie erzählt er uns diese Geschichte?

Die Idee zum Bau des „Roten Waggon“ hatte Ilya Kabakov Ende der 1980 Jahre. Wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer war er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes DAAD zu Gast im damaligen Westberlin. Hier kam ihm der Gedanke, in der Art eines Historienmalers eine Allegorie auf die künstlerischen Hoffnungen, die nicht realisierten Träume und den Niedergang der ehemaligen Sowjetunion zu erzählen – nicht jedoch als Gemälde, sondern als überdimensionale, raumfüllende Installation aus drei Teilen. Kabakov selbst erklärt diese Installation wie folgt:

„Der erste Teil der Installation, bei dem die Besichtigung anfängt, ist eine Holzkonstruktion im konstruktivistischen Stil der 1920er Jahre, eine aus mehreren Elementen zusammengefügte Leiter, die die Bewegung nach oben versinnbildlicht: In den Weltraum, in den Himmel, in eine herrliche Zukunft.“ Dieser Teil, der die Periode zwischen 1917 und 1932 mit all ihren Hoffnungen auf eine leuchtende Zukunft repräsentiere, sei zugleich Sinnbild der damaligen künstlerischen Avantgarde.

Ilya Kabakov, Der Rote Waggon, 1991 (Detail) Gemälde auf dem Roten Waggon: Brückenbauingenieure neben Himmelsleiter aus Holz, die für die Erwartung einer herrlichen Zukunft steht. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Der „Rote Waggon“ selbst sei einerseits eine ironische Anspielung auf die Propaganda eines angeblichen sozialistischen Paradieses unter Stalin. Doch der Eisenbahnwaggon, ein damals häufig verwendetes Symbol für den technischen Fortschritt funktioniert nicht. Kabakov: „Statt auf Rädern steht der Waggon auf niedrigen Holzklötzen. An beiden Seiten hängen – anstelle von Fenstern – Gemälde im Stil des ‚Sozialistischen Realismus‘.“

Ilya Kabakov, Der Rote Waggon, 1991 (Detail), Gemälde auf dem Roten Waggon: Fest auf dem Lande – eines der Propagandabilder, die ein angebliches Sowjetparadies versprechen. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Die Tür aber, die von der konstruktivistischen Holzkonstruktion der Anfangsphase in den Waggon führt, ist verschlossen. Die Betrachtenden müssen daher einen Umweg machen und werden von leisen Klängen aus dem Inneren des Waggons auf dessen Rückseite gezogen, von wo sie über eine kleine Leiter in den langen dunklen Innenraum gelangen. Entlang der einen Seite erstreckt sich eine Sitzbank, die andere Seite wird durch ein riesiges Propagandagemälde mit den Versprechungen einer schönen neuen Welt gefüllt: „Luftschiffe schweben über den Häusern, ihre Passagiere sinken an Fallschirmen zu ihren Wohnungen herunter …“ schildert Ilya Kabakov einige Details dieses Bildes. Aus Lautsprechern ertönen sentimentale Lieder der 1930er und 1940er Jahre, die das falsche Glücksversprechen akustisch untermalen. „Das Bild eines sowjetischen Waggons ohne Räder wird überdeckt von der Utopie seiner Vergangenheit und das macht den ganzen Reiz, den Effekt dieser Installation aus“.

Ilya Kabakov, Der Rote Waggon, 1991 (Detail), Gemälde für die Innengestaltung des Roten Waggons: Akrobaten der Luft – großflächige Propagandabilder mit den Versprechungen einer schönen neuen Welt untermalt von sentimentalen glücksversprechenden Liedern, die im Innern des Waggons aus Lautsprechern erklingen. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Nachdem man sich eine Weile wie selbstvergessen in dieser imaginären Propagandawelt aufgehalten hat, geht es über die kleine Leiter wieder aus dem Waggon hinaus – in den dritten Teil der Installation, wo großes Chaos herrscht: „Große Haufen von Trödel und Müll liegen herum: Zerrissenes Packpapier, Bretter, Kartons, leere Kisten, Dinge, die nach einem Bau liegenbleiben“, so Kabakov, ,,all das, was weggeräumt werden sollte – aber vielleicht hat man es nicht geschafft, oder man wird es später wegtragen, oder man hat es einfach vergessen, das ist nicht klar. Dieser Müllhaufen“, so der Künstler weiter, ,,steht für die dritte sowjetische Periode von 1963 bis 1985, für eine Zeit des inneren Zerfalls, in der sich alles auf das unvermeidliche Ende zubewegt.“

Wir wissen: Nach Jahren der Agonie und schließlich dem Ende der Sowjetunion hat die Geschichte, die Ilya Kabakov uns mit seiner Installation „Der Rote Waggon“ erzählt, bis heute nicht aufgehört.

Ilya Kabakov, Der Rote Pavillon, Entwurf für die Biennale Venedig 1993

Im Jahre 1993 wurden die Kabakovs eingeladen, den russischen Pavillon auf der Biennale Venedig zu gestalten. Sie taten etwas völlig Ungewöhnliches: Sie verwandelten den kompletten Pavillon metaphorisch in eine Baustelle – aber in eine Baustelle ohne Plan und Ziel: Arbeitsklamotten lagen herum, aber es gab nirgendwo Bauarbeiter, ein paar Nägel wurden in die Wand geschlagen, niemand wusste wozu, Farbreste verrotteten in halbleeren Eimern – kurzum, es herrschte ein heilloses Chaos. Und wieder, wie auch beim Roten Waggon, wiesen seltsame Klänge den Besucherinnen und Besuchern einen Weg: ganz hinten im Garten des Grundstücks stand ein kleiner rosafarbener Pavillon, der festlich dekoriert war und von dem alle Attribute der „Großen Epoche der Sowjetunion“ herüberwinkten: Hammer und Sichel, Rote Sterne, Propagandasprüche und Flaggen. Und aus einem Lautsprecher auf einem hohen Metallmast tönten Sowjethymnen aus den 1950er Jahren.

Auf der Website von Ilya und Emilia Kabakov gibt es einen kleinen Film aus dem Jahre 2017, in dem Emilia Kabakov mit einem Lächeln auf den Lippen und feiner Ironie in der Stimme sagt:

„Damals fragten uns alle: Warum macht Ihr das? Die Sowjetunion ist doch Geschichte, heute sind wir ein freies Land! Doch wir haben gesagt: Vorsicht, Vorsicht, es kann auch anders kommen. Dieser kleine rote Pavillon im Garten erinnert uns daran, was wieder passieren könnte …“.

Bei aller Weitsicht, die – leider, so muss man sagen – aus diesen Worten spricht: Die Kabakovs sind nicht nur Realisten. Mit der Kraft der für beide so typischen künstlerisch-subversiven Phantasie sind sie zugleich Optimisten. Sie wissen, dass die Freiheit, um die heute in der Ukraine, dem Land ihrer Geburt, gekämpft wird, sich auf Dauer nicht gewaltsam unterdrücken lassen wird. Hoffen wir, dass es auch dazu von Ilya Kabakov, der am 30. September des kommenden Jahres 90 Jahre alt wird, in nicht allzu ferner Zeit eine weitere Erzählung geben kann und wird.

Einen herzlichen Gruß an Sie alle,

Renate Petzinger


Zur Person
Dr. Renate Petzinger (*1943) war von 1990 bis 2005 Kustodin und Oberkustodin beim Museum Wiesbaden und seit 2006 bis 2009 dessen stellvertretende Direktorin. In dieser Zeit der grundlegenden konzeptionellen und baulichen Erneuerung waren ihre Energien und ihre Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen gefragt: als Baubeauftragte und als Ausstellungskuratorin, bei der Entwicklung des Konzepts für ein Museum der Kunst und Natur und bei den Weichenstellungen für eine zeitgemäße Bildung und Vermittlung. Am 19. September 1994 gehörte Renate Petzinger zu den Gründungsmitgliedern der Freunde des Museums Wiesbaden und war später viele Jahre Mitglied des Vorstands. Heute lebt sie als Autorin in Hamburg und Kassel, bearbeitet Werkverzeichnisse von documenta-Künstler*innen und tritt gerne immer wieder eine Reise nach Wiesbaden an, um an Museumsveranstaltungen teilzunehmen. (red)

 

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