Kunstvoll und Naturnah
Ein Königstiger beißt nicht im Museum

Es ist schon ein wirklich bemerkenswertes neues Objekt, das Einzug in die Ausstellungen der Naturhistorischen Sammlungen des Museums Wiesbaden gehalten hat: Ein ausgewachsener Bengalischer Tiger, auch Königstiger genannt, begrüßt nun die Besucher aus dem ersten Saal neben dem Eingang. Doch bis es soweit war, standen umfangreiche Arbeiten an.

Über Kontakte der Freunde des Museums Wiesbaden gelangte das Landesmuseum an das Fell des Tigers Pascha, der im Tiger-Garten Waldeck gestorben war. In diesem Jahr hatten Susann Steinmetzger und Felix Richter vom Präparationsteam das Ziel, dem Tiger „ewiges Leben“ einzuhauchen. Sie nutzten eine vorgefertigte Form und bauten sie nach den Maßen des Körpers von Pascha und den eigenen Vorstellungen um. Dazu bedienten sie sich zahlreicher Fotografien von Pascha und anderer Tiger und modellierten seinen Körper so genau wie möglich nach. So entschieden sie über seine Körper- und Fußhaltung, Blickrichtung und wie weit das Maul aufstehen sollte. Zudem suchten Susann und Felix passende künstliche Glasaugen, Zähne und Zunge heraus. Denn bei einem Präparat dieser Art, im Fachjargon Dermoplastik genannt, sind nur noch Haut und Haar des ursprünglichen Tieres erhalten, alles andere wird künstlich und bisweilen künstlerisch nachgebaut. Das Ergebnis können Besucher und Besucherinnen seit kurzem im Museum bestaunen.

Das Präparat des Bengalischen Tigers steht derzeit in einem Ausstellungsraum, der sich dem Phänomen der Wandlungen widmen soll. In einer ersten Interimsausstellung nimmt die Präparation einen großen Ausstellungsteil ein, geht es doch darum, aus lebloser Materie die Illusion des Lebendigen zu machen. Und im Gegensatz zum Zoo kommt man den Exponaten hier sehr nah (trotzdem bleibt das Anfassen natürlich unerwünscht). Erst aus kurzer Distanz erschließen sich die wahre Größe der Tatzen und die ganze Anmut des Tigers.

Neben dem Thema Präparation geht es bei den Wandlungen unter anderem auch um den Gesteinskreislauf oder die Verwandlung, Metamorphose, der Schmetterlinge, die im Museum Wiesbaden durch keine Geringere als Maria Sybilla Merian und ihre Sammlung vertreten ist. In Kleinstdioramen zeigt sich, dass sich gute Präparation nicht nur auf Großdermoplastiken beschränken lassen darf.
Für ein gelungenes Ausstellungsobjekt müssen viele Voraussetzungen stimmen. Neben den Fertigkeiten der PräparatorInnen spielen auch ihr Wissen bzw. die zum Lebewesen verfügbaren Informationen eine große Rolle. In den Naturhistorischen Sammlungen ist Pascha nicht der erste Tiger. Eines der wertvollsten Objekte ist das Präparat eines Tigers, der von der Insel Java stammt und bereits 1826 ins Museum kam – Fell und Knochen in einem Rumfass. Auch wenn diesem Präparat die Natürlichkeit fehlt und es heute als wenig ausstellungstauglich gilt, ist es ein kostbares und historisches Objekt, das unterstreicht, wie weit Menschen andere Lebewesen zurückdrängen oder sogar auslöschen können.

Neben Bengalischem und Java-Tiger beherbergt das Museum auch einen Sibirischen Tiger. Seine Haut zerfiel bei der zweiten Gerbung. Die erste wurde extern unsachgerecht ausgeführt, und sogenannter Fettfraß zerstörte die Hautstruktur. Dieses Phänomen ist vergleichbar mit dem Säurefraß bei Papieren. Dem Dermoplastiker Dieter Schön gelang es trotzdem, einen eindrucksvollen Tiger zu schaffen. In mühevoller Fleißarbeit setzte er das Fell wieder zusammen und kreierte einen liegenden Tiger, der einmal – in Gesellschaft von Pascha – in der Dauerausstellung „Bewegung“ ausgestellt werden wird. Doch bis es soweit ist, begrüßt der Königstiger im Entree der Naturhistorischen Ausstellungen die Besucher und Besucherinnen und zieht sie, hoffentlich, in seinen Bann.
Hannes Lerp
