Kunstvoll und Naturnah

Die Metamorphose des Künstlers

Schmetterlinge und Augen? Es muss doch eigentlich verwundern, wenn ein Künstler, der in der wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung (die keineswegs identisch sein müssen, es hier aber sind) gemeinhin für absolute Abstraktion steht, beinahe durchgehend figürliche Motive verwendet? Also nochmal: Schmetterlinge und Augen!

Ernst Wilhelm Nay, „Spirale in Blau“, 1964, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher – © Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Überall findet man sie in unserer Ausstellung, aber warum hat man sie lange Zeit nie wirklich wahr- und ernstgenommen, sondern immer dem Streben des Künstlers nach Gegenstandslosigkeit und Gestik untergeordnet?

Für Nay bedeuten die Augen ja dreierlei: in erster Linie sind sie das wichtigste Werkzeug des Künstlers. Mit ihnen nimmt er die Welt wahr (wie wir auch), nur mit dem Unterschied, dass ihn das so Empfangene zum Schaffen drängt – was dazu führt, dass er das Wahrgenommene dann für sich und uns in eine Bildwelt überführt. Die Augen, die uns so zahlreich in den Bildern begegnen, sind also immer auch die Augen Nays, mit der dieser auf seine Umgebung, seine Umwelt, seinen Umkreis blickt. Dann stehen die Augen natürlich auch für den Menschen, als Pars pro toto, man sieht zwar häufig nur ein Augenpaar, gemeint ist aber immer der gesamte Mensch, damit haben die Bilder auch mit uns, den Betrachterinnen und Betrachtern, zu tun. Und schließlich sind es doch auch die Augen der Bilder, die uns ansehen, uns direkt ansprechen, uns involvieren in die vom Künstler gesehene und gestaltete Welt, in der wir explizit von Beginn an miteingeschlossen wurden. Damit verschwimmen die Grenzen gänzlich zwischen uns, dem Werk und – naja genaugenommen – auch dem Künstler.

Warum man das lange nicht herausgearbeitet hat, lag möglicherweise daran, dass Nay nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell unter den tonangebenden Kunstkritikern als das nationale wie internationale Aushängeschild der neuen deutschen abstrakten Kunst galt und auch so propagiert wurde. Gegenständlichkeit, auch Versatzstücke von Gegenständlichkeit, wurde in jenen Jahren eher als hinderlich wahrgenommen, wenn man Künstlerinnen und Künstler als aktuell und zeitgenössisch mit dem Finger am Puls der Zeit beschreiben wollte. Manche sprechen heute vom „Diktat der Abstraktion“, das damals bestanden haben soll, weshalb sich einige wesentliche Dinge leicht übersehen ließen.

Links angeschnitten Nays Gemälde „Nachtschmetterlinge“ (Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln), rechts seine „Schmetterlinge“ der Staatsgalerie Stuttgart, beide von 1932 – © Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Neben Schmetterlingen und Augen gibt es noch viele weitere Motive im Werk Nays – etwa Hände und Füße oder Gestein und Gestirne –, weil man aber in einer Ausstellung nicht alles abbilden und herausarbeiten kann, haben wir uns auf diese beiden prominenten beschränkt. Schmetterlinge flattern bis etwa 1950 zahlreich durch die kraftvollen Malereien Nays, erst als „Nachtschmetterlinge“, die noch ein wenig an Max Ernst denken lassen, dann aber auch als Doppelwesen, die (wie wir seit Maria Sibylla Merian wissen) den ersten Teil ihres Lebens in und unter der Erde verbringen und sich im zweiten Teil frei in der Luft bewegen dürfen. Sinnfällig besitzen die ockerfarbenen Wesen im Stuttgarter Bild einen dunklen irdischen Schlagschatten und die wolkigen weißen eine hellblaue Aura. Es scheint in dem Gemälde beinahe so, als ob sie die schwere Hülle des irdischen Daseins abgestreift hätten und doch im Kern gleichgeblieben wären.

Blick in Saal 7 der Ausstellung „Ernst Wilhelm Nay – Retrospektive“, © Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)
Ernst Wilhelm Nay, „Komposition mit Schmetterlingen“ (Detail), 1948, Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig – © Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Metamorphose meint aber nicht nur körperlichen Wandel, sondern auch inhaltliche Veränderung. Nay verstand das Motiv des Schmetterlings vermutlich auch als Sinnbild für sich und seine Kunst. Er selbst hat sich ja auch verändert, eine Metamorphose von einem Künstler durchlaufen, der zunächst irdische Themen wie Fischer, Hirten oder schlichtes Wurzelgemüse darstellte, zu einem Maler, der nach dem Kosmischen, Überzeitlichen, Allgemeingültigen hinter den Dingen der sichtbaren Oberfläche, also nicht weniger als nach den uns bislang verborgen gebliebenen Zusammenhängen des Universums suchte und aus diesem Grund mit denselben, nun allerdings abstrakteren Formen deutlich freier umgehen musste. Sieht man genau hin, bemerkt man bei der nun bereits völlig abstrakt wirkenden „Komposition mit Schmetterlingen“ aus dem Jahr 1948 auf den kleinen hellblauen, zu bloßen Dreiecken reduzierten Flügeln, kleine Kreise (wird die Form damit gar zu einem Pfauenauge?), die sich bald zu den großen Scheiben und Augen verselbstständigend auswachsen sollten. Sobald dies geschehen war (etwa um 1952), finden sich übrigens keine Schmetterlinge mehr in Nays Werk. Die Metamorphose des Künstlers vom expressiven zum ungegenständlichen Maler war abgeschlossen. Dennoch behielt Nay den Menschen stets im „Blick“. Abgehoben ist anders.

Roman Zieglgänsberger


Ernst Wilhelm Nay, „Astral“, 1964, Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln – © Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Erfahren Sie mehr über Dr. Roman Zieglgänsberger, Kustos Klassische Moderne, im Interview.

Ein Video zur Ausstellung finden Sie hier (auf Youtube).

 

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