Kunstvoll und Naturnah

Ein bemerkenswertes Doppelbild

Anlässlich der ersten großen Ausstellung „Aus dem Neunzehnten. Von Schadow bis Schuch“, die sich ausschließlich mit der Malerei des 19. Jahrhunderts beschäftigte und von November 2015 bis Mai 2016 dauerte, erschien ein umfangreicher, prächtiger  Katalog, der von Peter Forster für das Museum Wiesbaden herausgegeben wurde. Darin fielen mir zwei fast identische große Bilder auf, die einen etwas rätselhaften Inhalt hatten und nebeneinander hingen. Man fragte sich natürlich, wieso hier gleich zwei Bilder fast identischen Inhalts, die überdies mit ihren Maßen von 87 mal 65 cm und breiten vergoldeten Rahmen reichlich Platz in der Ausstellung beanspruchten, gezeigt wurden; sie mussten also schon irgendwie etwas Besonderes sein.

links: Jacob Becker (1810–1872): Mädchen am Brunnen, 1860, Öl auf Leinwand, Inv. Nr. M 57, Museum Wiesbaden, erworben 1860; rechts: Jacob Becker (1810–1872): Der Heiratsantrag (Eugen Lucius wirbt um Maximiliane Becker), 1860, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Besonders war zunächst, dass von den beiden Bildern nur eines dem Museum gehörte. Es gelangte gleich nach seiner Entstehung 1860 nach Wiesbaden. Das andere Bild mit dem Titel „Der Heiratsantrag“ wurde noch zu Lebzeiten des Malers vom Großherzog von Baden für die Gemäldegalerie in Karlsruhe angekauft. Von dort gelangte es in den Besitz der Frankfurter Kunsthändlerfamilie Andreas, die es für die Ausstellung als Leihgabe zur Verfügung stellte.

Was ist auf den Bildern zu sehen? Auf den ersten Blick sieht man zwei junge Männer, die an einem Dorfbrunnen stehen und ein schüchternes Mädchen betrachten, das sich keusch zur Seite dreht. Das Ganze ist naturalistisch gemalt in romantischer Umgebung und dörflicher Idylle. Doch das Bild selbst scheint nicht idyllisch zu sein: Der junge Mann mit der Pelzmütze auf dem Kopf stützt ziemlich unverfroren sein linkes Bein auf einen umgedrehten Holzbottich und wirkt kein bisschen schüchtern. Auch kommen die jungen Männer aus einem  dunklen und waldigen Hintergrund zu dem Mädchen, das in hellem Sonnenlicht geradezu angestrahlt wird. Man fragt sich: Was treiben die Kerle da eigentlich … ?


Bei genauerem Hinsehen erkennt man einige Details, die die Bilder unterscheiden: Zunächst sind die beiden Männer, die mit Sense und Heurechen hantieren, nicht identisch; nur ihre Kleidung, die Haltung und Blickrichtung sind gleich. Der begleitende Mann mit der Pelzmütze könnte allerdings auf beiden Bildern derselbe sein. Aber auch die beiden Mädchen ähneln sich sehr in Kleidung und Haltung – doch die Gesichter sind auf jeden Fall unterschiedlich.


Es sind also, außer dem Mann mit der Pelzmütze auf dem Kopf, mindestens vier Personen abgebildet, was zu der Frage führt, wer das wohl sein könnte. Um das herausbekommen genügt kein Blick auf die Bilder, sondern einer in die Fachliteratur wie z. B. den bereits erwähnten Katalog, der folgende Erkenntnisse erlaubt: Das Bild aus dem Museum heißt: „Mädchen am Brunnen“, wurde 1860 gemalt und ist bezeichnet mit „J. Becker 1860“. Das andere Bild, die Leihgabe, heißt: „Der Heiratsantrag (Eugen Lucius wirbt um Maximiliane Becker)“. Marie und Maximiliane Becker waren Schwestern und die Töchter des Frankfurter Malers und Professors am Städel Jacob Becker. Marie, die ältere der beiden, heiratete 1861 den wohlhabenden Hamburger Kaufmann Wilhelm Meister, und Maximiliane heiratete den Erfurter Chemiker Dr. Eugen Lucius im Jahre 1860, also dem Jahr, als die Bilder gemalt wurden. Lucius war schon 1855 nach Wiesbaden gezogen, wo er bei Carl Remigius Fresenius, der eines der ersten Analyselabors für Lebensmittel betrieb, studierte.

Lucius und Meister waren befreundet. Sie hatten sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Manchester, wo beide die neuesten Entwicklungen des Maschinenbaus studierten, kennen und schätzen gelernt. Anlässlich einer Kur, die Meister in Wiesbaden absolvierte, besuchte er seinen Freund Lucius und lernte dessen Frau Maximiliane und deren Schwester Marie kennen, um die er auf unserem Bild wirbt.

Die Lebenswege von Lucius und Meister waren hochinteressant. Die Herren haben deutsche Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Hier soll der Hinweis genügen, dass die beiden zu den Gründern der Farbwerke Hoechst – das Dorf lag damals im Herzogtum Nassau – gehörten, die lange die größte chemische Fabrik der Welt waren und ihren Gründern einen enormen Reichtum brachten.

Es sind also schon sehr interessante Leute, die Becker da gemalt hat. Aber es gibt noch mehr zu entdecken: Was auf den Bildern zu sehen ist, hat es nämlich in Wirklichkeit so nie gegeben. Die Herren sind als Ziegenhainer Bauern im Sonntagsstaat verkleidet. Und sie halten weder die Sense noch den Heurechen korrekt, denn jeder, der da reinläuft, kann sich gefährlich verletzen. Andererseits kann man in der Ausrichtung, in die der Rechen und die Sense weisen, durchaus eine erotische Anspielung sehen, die durch die beiseite gezogene weiße Schürze des Mädchens noch verstärkt wird.


Und der hübsche Ebbelwoi-Bembel hat am Brunnen nichts verloren, man transportiert kein Wasser in einem Bembel. Aber sein Deckel ist geschlossen – eine Anspielung auf die Jungfrauenschaft der Mädchen, die sich an der Mauer geradezu Halt suchend abstützen müssen, weil ihnen bei dem ganzen Vorgang schwindelig geworden ist. Kein international versierter Kaufmann wie Meister, und kein promovierter Chemiker lief 1860 noch in Bauerntracht herum. Aber Jacob Becker sehnte sich, im Zeitalter der Industrialisierung Deutschlands, nach der guten alten Zeit zurück mit heiler Welt auf dem Lande und malte Töchter und Schwiegersöhne in dörflicher Idylle als Bauersleute.

Der Aufbau beider Bilder erinnert sehr an die zahlreichen Bilder aus allen Epochen mit dem Motiv „Jacob und Rahel am Brunnen“ oder „Rebecca und Isaak“. „Der Brunnen als Symbol für Leben und Lebenskraft war im 19. Jahrhundert bekannt und wurde auch als solcher verstanden“ schreibt Irene Haberland in ihrem aufschlussreichen Aufsatz zu Jacob Becker in dem schon erwähnten Ausstellungskatalog.

Jacob Becker kannte sich bei den Nazarenern gut aus, aber er hatte in Düsseldorf bei Schirmer auch die aktuellen Entwicklungen der Landschaftsmalerei studiert. Im Hause von Wilhelm von Schadow (der Sohn des berühmten Gottfried, der u. a. die bekannte Statue der beiden Prinzessinnen Louise und Friederike und die Quadriga auf dem Brandenburger Tor geschaffen hat) ging Jacob Becker ein und aus. Dort gab es einen Wandfries mit vier Tafeln mit Allegorien für  Geburt – Jugend  – Alter – Tod. Die Tafel „Jugend“ enthielt eine Szene mit Jacob und Rahel am Brunnen. Womöglich hat sich Jacob Becker daran erinnert, als er seine Töchter und Schwiegersöhne als junge Brautleute malte.

So bleibt nur zu hoffen, dass wir Freunde des Museums Wiesbaden und das Publikum doch in absehbarer Zeit die ersehnte „Galerie des 19. Jahrhunderts“ bekommen. Da gehören die beiden qualitätvollen Bilder, die so vielfältig mit Wiesbaden, dem Herzogtum Nassau und schließlich damit auch mit dem Land Hessen verwoben sind, nämlich hin.

Jan Baechle


Zur Person
Jan Baechle ist seit 2004 Kuratoriumsmitglied der Freunde des Museums Wiesbaden. Bereits im Folgejahr ging er mit dem von ihm entwickelten Format „Depotfrühschoppen“ an den Start. Diese beliebte und erfolgreiche Art der Kunstvermittlung sollte Ehrenamtler Jan Baechle 16 Jahre lang anbieten. Am 24. Dezember 2020 schenkte Jan Baechle seine bislang private Kunstsammlung dem Museum Wiesbaden. Gemeinsam mit seiner verstorbenen Ehefrau hatte er die Sammlung mit Werken des 19. Jahrhunderts sowie einigen Spitzenwerken des 20. Jahrhunderts dem Museum Wiesbaden zugedacht. Dazu Direktor Dr. Andreas Henning: „Diese Werke sind eine bedeutende und hochqualitative Ergänzung unseres Bestands des 19. Jahrhunderts, insbesondere schließen sie schmerzliche Lücken in unserer Sammlung. Dank dieser großzügigen Geste kommen wir der Schaffung einer Galerie des 19. Jahrhunderts einen weiteren großen Schritt näher, mit der wir an die Gründerzeit des Museums anschließen und die kunsthistorische Entwicklung zu Jugendstil und Moderne anschaulich machen wollen.“

Zur Schaffung einer „Galerie des 19. Jahrhunderts“

Das Museum Wiesbaden ist als Universalmuseum aus dem Geist des 19. Jahrhunderts entstanden und dieser Zeit entsprechend verbunden. Über eine „Galerie des 19. Jahrhunderts“ dokumentieren wir nicht nur unsere eigene Museumsgeschichte, sondern schaffen die Voraussetzung, die folgenden Kunstströmungen zu verstehen. Das „lange 19. Jahrhundert“ kennzeichnet eine Zeitspanne wesentlicher Entwicklungen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur – es war das Jahrhundert der Bilder. In diversen Gattungen wie Genre, Landschaft, Porträt und Historienmalerei gelang es den Künstlern und Künstlerinnen, mit herausragenden Werken bleibende Kunstgeschichte zu kreieren; hieran muss das heutige Wiesbadener Publikum partizipieren können. Wie interessiert die damalige Leitung an aktueller Kunst war, belegt der Ankauf des Werkes von Jacob Becker, das direkt aus seinem Atelier erworben wurde.

Peter Forster


Zur Person
Dr. Peter Forster ist seit 2010 Kustos für die Alten Meister im Museum Wiesbaden. Erfahren Sie mehr über den gebürtigen Frankfurter im Interview.

 

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