Kunstvoll und Naturnah

„Nature vivante“ oder: Warum Marie Luise Gruhne keine Zeit hat …

Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024, Detail: mit Federn bedecktes Portal (Foto: Martina Caroline Conrad)

Das Wetter ist einfach eine Katastrophe und doch gleichzeitig wirklich auch ein Glück – wenn es nicht geregnet hätte, wäre ich nicht ins Museum Wiesbaden gegangen. Und dann hätte ich „Daedalus misses Icarus“ noch gar nicht gesehen. Und ich hätte nicht das Bedürfnis gehabt, Marie Luise Gruhne kennenzulernen. Aber der Reihe nach …

Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024 (Foto: Martina Caroline Conrad)

Es ist wie so oft in den letzten Wochen: Urplötzlich öffnet sich der Himmel, und ein Schwall Wasser schwappt auf die Erde. Zum Glück ist das Museum nicht weit, und ich wollte mir die Intervention der Künstlerin Marie Luise Gruhne auf jeden Fall ansehen. Im Museum ist der Himmel plötzlich nicht mehr schwarz, sondern eine Verheißung. In der Mitte des Raumes unter einem hellen runden Oberlicht hängt ein Portal. Luftig leicht aus weißen Federn. Sacht rauscht irgendwo der Wind. An der Wand läuft eine Videoprojektion. In einem Loop von 7:23 Minuten sieht man hier die gleichen Umrisse wie beim Federnportal. Allerdings ist alles in Bewegung: Zuerst rauscht das Meer über den Strand, dann liegen Muscheln im Sand, Wind kommt auf und biegt den Strandhafer, ein blauer Himmel mit hellen Wolken und dann ein infernalisches Brausen – Kondensstreifen von Düsenjägern (Bombern?) ziehen über den Himmel, kreuzen die Toröffnung und verschwinden.

Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024 (Foto: Martina Caroline Conrad)

Eine große Poesie geht von dieser Installation aus. Weich und luftig, aber regungslos das Portal aus Federn – ständig in Veränderung die Videoprojektion. Aber ist das die ganze Wahrheit? Wieso schwebt das Portal, das doch an sich auf dem Boden stehen müsste? Und ist es nicht vielmehr so, dass die Federn vom kleinsten Windhauch weggeblasen werden können? Was ist stabil, was instabil? Kann man die Gesetzmäßigkeiten der Natur einfach außer Kraft setzen? Hat nicht auch Ikarus die Warnung seines Vaters Daedalus ignoriert und ist abgestürzt, als er der Sonne zu nah kam und das Wachs seiner Federflügel geschmolzen ist? Subtil vermittelt Marie Luise Gruhne in dieser traumhaften Intervention auch Bedrohung – fliegen die Düsenjäger ins Kriegsgebiet? Wie lange erfreuen wir uns an der unberührten Natur? Was bleibt, was ist vergänglich?

Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024 (Foto: Martina Caroline Conrad)

Diese Intervention „Daedalus misses Icarus“ im Museum Wiesbaden ist poetisch und irritierend. Sie lässt mich nicht los, setzt sich in meinem Kopf fest. Gerne würde ich mit der Künstlerin Marie Luise Gruhne darüber reden … Und am nächsten Tag rufe ich sie einfach an. Leider ist nur der Anrufbeantworter erreichbar, der meine Fragen nicht klären kann. Doch Marie Luise Gruhne ruft mich zurück. Nein, für ein Treffen hat sie keine Zeit, sie muss mit zwei Tänzern proben. Vielleicht in den nächsten Tagen? Nein, nein, sie ist völlig eingespannt, ihr Atelier derzeit vollkommen überfüllt, aber sie will sich bei mir melden.

Installation „Daedalus misses Icarus“, Museum Wiesbaden 2024 (Foto: Martina Caroline Conrad)

Ich bin enttäuscht, gerne hätte ich mehr über diese tolle Intervention „Daedalus misses Icarus“ erfahren, die mir immer noch durch den Kopf geht. Nach zweimal Anrufbeantworter bei mir und einmal bei Marie Luise Gruhne kommen wir wieder zusammen. Nein, mit dem Treffen wird es nichts. Ich frage (jetzt endlich), an was sie denn aktuell arbeitet. Und jetzt wird es richtig interessant:

Marie Luise Gruhne plant die Performance „Fluxusbaum“ am 29. Juni 2024 vor dem Museum Wiesbaden. Wir telefonieren sehr lange, und die Künstlerin erklärt mir, dass das die Fortsetzung ihres Projektes „shred and clean up“ ist, das sie letztes Jahr im Kunstverein Bellevue-Saal anlässlich des Revivals FLUXUS SEXTIES verwirklicht hat. „Der Boden war raumfüllend mit Schredderpartikeln bedeckt, zeigte ornamenthaft den Grundriss eines Barockgartens – in der Inszenierung ist er Zitat einer ganz und gar künstlichen, erdachten Ordnung, mit der der Mensch seinerzeit suchte, die Natur zu bändigen und seinen Plänen anzupassen. Das im Wiesbadener Bellevue-Saal auf dem Boden entwickelte Bild besteht aus geschredderten alten Briefen, Entwürfen, Musiknoten, Konzepten, Plänen. Wie all die anderen Intentionen, Erwartungen, Kategorisierungen in der Performance wird dieses Bild schließlich weggekehrt werden, für etwas Neues Platz schaffen.“

Marie Luise Gruhnes Projekt „shred and clean up“ realisiert im Kunstverein Bellevue-Saal anlässlich des Revivals FLUXUS SEXTIES (Foto: Marie Luise Gruhne)

Marie Luise Gruhne hat den Schredder verkauft und aus dem Erlös die Performance „Fluxusbaum“ konzipiert. Direkt auf der Verkehrsinsel vor dem Museum Wiesbaden wird dieser Baum gepflanzt, und zwei Tänzer werden die dazugehörige Choreografie einer zehnminütigen Aufführung umsetzen. Die Künstlerin erklärt mir, dass sie traurig ist, weil sich immer mehr Menschen von der Natur abwenden. Sie sucht in der Kunst nach Kraft und Dauerhaftigkeit, nach Halt, wenn alles in Bewegung ist. Es ist nicht explizit die Rede von Krieg oder Klimawandel, aber im Rückblick auf Fluxus gibt es zahlreiche Parallelitäten – man denke nur an den „Lipstick Bomber“ von Wolf Vostell.

Also, ich muss auf jeden Fall am Samstag, 29. Juni 2024, zu dieser Performance gehen: Treffpunkt am Bellevue-Saal, Wilhelmstraße 32, um 15.30 Uhr, Start 16 Uhr, von da aus geht es dann zur Pflanzstelle vor dem Museum Wiesbaden. Dann werde ich auch wieder zur Arbeit „Daedalus misses Icarus“ gehen. Und vielleicht habe ich dann die Gelegenheit, mit Marie Luise Gruhne darüber zu sprechen. Ich sehe die Intervention noch immer in Gedanken vor mir: Federleicht ist das Tor wie eine Verheißung – ein Weg aus der Realität in eine andere Welt? Eine Welt am Meer mit lichten Wolken oder ein Kriegsszenario mit Düsenjägern? Marie Luise Gruhne hat mir schon mal erklärt, dass das Tor für sie ein Zeichen ist – ein kulturübergreifendes Symbol. Auf der ganzen Welt haben Portale, Tore in allen Zeiten eine Rolle gespielt: Man blickt oder geht hindurch. Vielleicht hat man die Chance auf Veränderung? Oder ist es eher die Suche nach etwas Dauerhaftem?

Ach ja – da war doch noch „nature vivante“. Dieser Begriff ist mir spontan vor der Intervention eingefallen, ein Gegenpol zu „nature morte“. Sie erinnern sich: Unter „nature morte“ haben Künstler über Jahrhunderte hinweg Dinge in einem Bild zum Stillleben vereint: tote Fasane, Kerzen und Vasen … Auch in „Daedalus misses Icarus“ geht es um Verbindungen, aber nicht um leblose Gegenstände, sondern um das Leben und die Hoffnung.

Martina Caroline Conrad

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