Kunstvoll und Naturnah

Ein Kirchensaal im Museum

Bei dem sogenannten Kirchensaal handelt es sich um einen eigens für die mittelalterlichen Skulpturen geplanten Ausstellungsraum im Museum Wiesbaden. Theodor Fischer hatte bei den Planungen zum Museumsneubau bereits die Objekte, die sich heute noch, beziehungsweise wieder dort befinden, vor Augen.

Der Kirchensaal im Jahr 1921: in der Nische im Hintergrund Kruzifix aus Walsdorf, um 1200, darunter Steinfigur eines Klerikers (Hl. Bernhard?) aus Eberbach, im Vordergrund gotischer Faltstuhl aus Limburg
Der Kirchensaal im Jahr 1921: in der Nische im Hintergrund Kruzifix aus Walsdorf, um 1200, darunter Steinfigur eines Klerikers (Hl. Bernhard?) aus Eberbach, im Vordergrund gotischer Faltstuhl aus Limburg
Der Kirchensaal heute: im Hintergrund das Walsdorfer Kruzifix sowie eine Gruppe aus Gnadenstuhl, Heiligem Johannes und Heiligem Viktor, um 1500 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)
Der Kirchensaal heute: im Hintergrund das Walsdorfer Kruzifix sowie eine Gruppe aus Gnadenstuhl, Heiligem Johannes und Heiligem Viktor, um 1500 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)

Er schuf einen atmosphärischen Ort, der den aus ihrem ursprünglichen Kontext entrissenen Werken, ein Stück ihrer feierlichen Würde wiedergab.

Mittelrhein – Heiliger Paulus, Madonna, Heiliger Jakobus, um 1500 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)
Mittelrhein – Heiliger Paulus, Madonna, Heiliger Jakobus, um 1500 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)

Die Werke stammen aus mittelrheinischer Provenienz vom Ende des 12. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts und wirken dabei jedoch keineswegs einheitlich. Gerade am Mittelrhein führten die zahlreichen Einflüsse französisch-gotischer Meister, aber auch italienischer Renaissance-Anmutungen zu großer Vielfalt in Darstellung und Qualität. Von herausragender Bedeutung ist das Walsdorfer Kruzifix. Es ist das älteste Objekt dieser Sammlung und steht am Beginn der Darstellung eines Christus patiens, dem leidenden Christus. Er spiegelt den damals neuen Ansatz der Liturgie, das Leiden auf Erden als notwendige Bürde für den Weg in Paradies zu zelebrieren. Indem der Gläubige animiert wird, dieses Leiden mitzufühlen und mitzutragen, qualifiziert er sich umso eher für die göttliche Erlösung. Bei der Präsentation des nicht mehr vollständig erhaltenen Kruzifixus wurde bewusst auf eine Nachbildung eines Kreuzes verzichtet zugunsten einer minimalinvasiven Metallkonstruktion, die die Konzentration auf das Objekt reduziert. Die umgebende Nische rahmt das Objekt und vervollständigt den Altar-Charakter des Objektes.

Mittelrhein – Kruzifix aus Walsdorf, um 1200 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)
Mittelrhein – Kruzifix aus Walsdorf, um 1200 (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)

Das Thema des Leidens auf Erden und der Sehnsucht nach einem besseren Ort oder Leben hat bis in die heutige Zeit Bestand und wird bis heute in der Kunst thematisiert. Daher sind in diesem Raum zwei Positionen der zeitgenössischen Künstlern zu sehen: die Bodenskulptur Morgenabend von Micha Ullmann sowie A Tale of the Sphinx von Katsura Funakoshi. Die symbolträchtige Grube unter Glas ist gefüllt mit schwarzem Eifler Vulkangestein, das Ullmann vor allem aufgrund der Nähe zu Wiesbaden wählte. Das Verständnis für Heimat ist für den israelischen Künstler, dessen Eltern aus Deutschland einst fliehen mussten, ein bewegendes Thema.

Katsura Funakoshi, A Tale of the Sphinx, 2004. Erworben mit Unterstützung durch die Freunde des Museums Wiesbaden (Foto: Ed Restle/ Museum Wiesbaden)
Katsura Funakoshi, A Tale of the Sphinx, 2004. Erworben mit Unterstützung durch die Freunde des Museums Wiesbaden (Foto: Ed Restle/ Museum Wiesbaden)

Fern von Deutschland lebt Funakoshi, der zwar zeitweise wenigstens in Europa (London) studiert hatte, aber ansonsten fest in Japan verwurzelt ist. Der getaufte Christ setzt sich jedoch inhaltlich mit deutscher Literatur des 19. Jahrhunderts auseinander, befasste sich in der Findungsphase seines Materials und seiner Anmutungen mit der mittelalterlichen Holzbildhauerei von Künstlern wie Tilman Riemenschneider. So spüren wir in der auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Skulptur doch etwas Vertrautes. Die Sphinx, die an Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen angelehnt ist, wirkt geheimnisvoll. Funakoshi konzipierte die Haltung der Wächterin zwischen Himmel und Erde so, dass der Betrachter zwar stets animiert wird, ihren Blick zu erhaschen und ihre bewegten Gedanken zu entschlüsseln, doch er diese Figur nie wirklich zu fassen bekommt. Sie wacht erhaben und geheimnisvoll über die Bewohner des Kirchensaals sowie die Besucher am Eintritt in die Sammlungen der Alten Meister.

Rebecca Krämer

 

Rebecca Krämer ist Kunstwissenschaftlerin und im Museum Wiesbaden als Kuratorin für die Entwicklung der Digitalen Sammlungen zuständig.

 

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