Kunstvoll und Naturnah

Für jeden das passende Nest

Eine Skizze von Auke de Vries: Ursprünglich plante er, die Vogelarten, die Erbauer der Nester, als Silhouetten auf der Rückwand und auf dem Glas aufzubringen. (© Auke de Vries)
Eine Skizze von Auke de Vries: Ursprünglich plante er, die Vogelarten, die Erbauer der Nester, als Silhouetten auf der Rückwand und auf dem Glas aufzubringen. (© Auke de Vries)

„Im Herbst verrät die Natur die Nester“, das sagte der holländische Künstler Auke de Vries in einem Gespräch über Vogelnester. Er beantwortete damit die Frage, warum er sich mit Nestern beschäftige. Er sprach dann davon, dass er gerne die Natur beobachte und sich seine eigenen Gedanken dazu mache. Auke de Vries stellte in den Kunstsammlungen des Museums schwebende Metallskulpturen aus. Diese Ausstellung mit dem Titel „Intervention (Nester)“ konnte man 2009 sehen. Das war vier Jahre vor der Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Natur, also Zeit genug, ihn zu fragen, ob er die Gestaltung von einer Vitrine mit verschiedenen Vogelnestern und einigen Insektennestern übernehmen würde. Er sagte zu, und das Ergebnis fällt im Themenraum „Form“ schon durch seine farbige Gestaltung auf: Ein leuchtend roter Boden und ein kräftiges Gelb auf der Rückwand umgeben eine Auswahl von etwa 50 Nestern. Die kleinsten sind die der Kolibris, das größte das einer Rabenkrähe.

Die Nester-Vitrine im Themenraum „Form“, gestaltet von Auke de Vries (Foto: Museum Wiesbaden)
Die Nester-Vitrine im Themenraum „Form“, gestaltet von Auke de Vries (Foto: Museum Wiesbaden)

Auch die Schilder für die Benennung der Nester sind farbig gestaltet. Die Farben verweisen auf den Formentyp des Nestes. Da gibt es napf-, kugel- oder tellerförmige Nester. Manche Vögel bauen Mulden, andere staffieren Höhlen mit verschiedensten Materialien aus. Egal welche Form das Nest bekommt, egal wie das Material geschichtet, verklebt oder verwebt wird: Vögel haben die arteigene Bauweise von ihren Eltern ins Nest gelegt bekommen – geerbt und nicht gelernt. Um diese Leistung der Natur zu verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, junge Erwachsene zögen unaufgefordert los und suchten sich das Baumaterial für ein Haus zusammen. Je nach Angebot würde das Material variieren, aber die Bauform wäre immer die gleiche – ohne Architekt, Bauplan und Bauaufsicht. Und ohne Ärger mit den Handwerkern. Denn das Haus wird ja selbst und mit eigenen Werkzeugen errichtet. Bei den Vögeln ist das in erster Linie der Schnabel. Den können die Tiere dank ihres gelenkigen Halses geschickt führen. Besonders kunstvoll arbeiten etwa die afrikanischen Webervögel. Sie verschlingen Blätter und Pflanzenfasern zu kugeligen oder flaschenförmigen Nestern. Manche haben lange geflochtene Röhren als Eingang.  Andere Arten bauen riesige Gemeinschaftsnester. Noch eigenartiger erscheint die Fähigkeit der ostasiatischen Schneidervögel. Sie perforieren Blattränder und ziehen Pflanzenfasern gleichsam wie Schuhbändel durch die Löcher und formen so aus dem Blatt eine Tüte. Diese wird dann mit Pflanzenmaterial befüllt. So fertigen sie ist ein hängendes Nest.  Das alles leisten die Vögel allein mit ihrem Schnabel. Mit den Füßen scharren einige Vogelarten Nestmulden oder halten das Baumaterial. Sehr oft kommt der ganze Körper zum Einsatz, denn mit Rundungen des Bauchs oder der Brust wird das Nestinnere geformt. Ob Kolibri oder Amsel – der mit dem Körper geformte Napf hat immer die richtige Größe.

Der Pirol (Oriolus oriolus), Singvogel aus der Familie der Pirole – eines der wenigen Vogelpräparate in der Vitrine (Foto: Museum Wiesbaden)
Der Pirol (Oriolus oriolus), Singvogel aus der Familie der Pirole – eines der wenigen Vogelpräparate in der Vitrine (Foto: Museum Wiesbaden)

Mit diesen Fähigkeiten ausgerüstet konnten Vögel im Laufe der Evolution in allen Lebensräumen – vom Urwald bis zur Arktis – die passenden Nester für ihre Nachkommen schaffen. Unter den Wirbeltieren haben Vögel und Säugetiere dank ihrer gleichbleibenden Körpertemperatur einen effektiven Stoffwechsel entwickelt. Federn oder Haare schützen die Tiere vor dem Auskühlen – die Embryonen jedoch müssen in gut isolierten Kammern groß werden. Was bei den Säugetieren die Gebärmutter ist, sind bei den Vögeln das Nest und der brütende Vogel. Nur Pinguine verzichten darauf. Sie verlassen sich lieber auf ihre Körperwärme und brüten das Ei unter einer Hautfalte aus – es gäbe ja auch wenig, was sie für ein Nest auf dem Eis finden könnten; die Elterntiere schützen ihre Nachkommen so auch gleich vor weiteren Gefahren, während Nester als Schutz vor Plünderungen an schwer erreichbaren Orten oder gut versteckt gebaut werden. In unseren Breiten sorgen Büsche, Hecken und dichtes Laub für den nötigen Sichtschutz – bis der Herbst kommt und die Nester „verraten“ werden. Dann aber sind die Jungtiere schon flügge, und das eine oder andere verwaiste Nest wird entdeckt. Manche solcher Entdeckungen landeten in der wissenschaftliche Vergleichssammlung des Museums.

Kuratorin Susanne Kridlo mit einem Nest der Schwanzmeise. Das Nest ist gut getarnt durch Flechten und Moose und sicher im Baum verankert: ein rundum geschlossener ovaler Bau mit einem Einflugloch. (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)
Kuratorin Susanne Kridlo mit einem Nest der Schwanzmeise. Das Nest ist gut getarnt durch Flechten und Moose und sicher im Baum verankert: ein rundum geschlossener ovaler Bau mit einem Einflugloch. (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Für Auke de Vries, und nicht nur für ihn, haben Nester auch eine poetische Ausstrahlung. Und bei der Gestaltung der Vitrine widerstrebte es ihm, sie in eine Vitrine einzusperren. So ist nicht nur ein Schwalbennest im Raum untergebracht, sondern die Vitrine auch mit poetischen Texten an den seitlichen Wänden ergänzt. Mit der farbigen Gestaltung der Vitrine wollte er die Farbigkeit der Vogelwelt hineinbringen. Denn die gefiederten Erbauer der Nester fehlen in der Vitrine – so wie sie auch ihre Nester nach dem Brüten verlassen haben.

Susanne Kridlo


Erfahren Sie mehr über Susanne Kridlo, Kuratorin Naturwissenschaft im Museum Wiesbaden, im Interview.

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