Weihnachtsgruß des Museumsdirektors

Was uns die Sanduhr sagen kann …

Ein Bild, in dem ein Motiv unser Sehvergnügen irritiert. Oskar Zwintscher: Selbstbildnis des Künstlers mit Tod, 1897, Öl auf Leinwand, Kunstsammlungen Chemnitz (Foto: Jürgen Seidel)

Liebe Freundinnen und Freunde des Museums Wiesbaden,

ein ereignisreiches und anregendes Jahr neigt sich dem Ende zu. Es hat uns glücklicherweise wieder zu mehr Begegnungen im Museum Wiesbaden zusammengeführt, als es in den zurückliegenden Pandemiejahren der Fall gewesen ist. Doch war es auch ein sehr bedrückendes Jahr, das durch den Krieg geprägt wurde, den Putins Russland gegen die Ukraine führt. Daher wird mein Weihnachtsgruß heute auch nicht von einem traditionellen Weihnachtsbild der Alten Meister begleitet, sondern von einem Gemälde Oskar Zwintschers, das zum Nachdenken anregen möchte.

Es ist ein Selbstbildnis, in dem sich der 27jährige Jugendstilkünstler einer kritischen Betrachtung unterzieht. Sein wacher Blick scheint uns zu gelten und ist zugleich auf das Abbild gerichtet, das der Maler von sich selbst im Spiegel erblickt. Und so hält er auch Pinsel und Palette in den Händen, da er gerade an dem Selbstbildnis arbeitet, das wir vor uns sehen. Mit dem Landschaftsmotiv auf dem Paravent verweist er auf eine für ihn wichtige Inspirationsquelle, nämlich die Farbholzschnitte des Japaners Katsushika Hokusai. Zudem gibt er uns einen biographischen Hinweis: Der Fensterausblick rechts zeigt Meißen, wo Zwintscher seit 1892 lebte.

Ein Motiv jedoch irritiert unser Sehvergnügen. Ein Gerippe lehnt sich zum Fenster herein und stellt eine Sanduhr auf den Tisch. Der Sand rieselt, die Zeit verrinnt. Eine Mahnung an die Bedingtheit und Vergänglichkeit alles Irdischen, die der Künstler hier an sich selbst adressiert. Eine Mahnung, die aber auch heute, 125 Jahre nach der Entstehung des Gemäldes, genauso gilt. Insbesondere, wenn wir uns den Krieg mitten in Europa vergegenwärtigen sowie die Krisen, mit denen wir in Form des Klimawandels, des Verlustes der Biodiversität, der Pandemie und der Demokratieverdrossenheit konfrontiert sind.

„Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ (Lk 2, 14). Gerade in schwierigen Zeiten ist diese Weihnachtsbotschaft wichtig. Wünschen wir uns also in diesen Festtagen Momente des Innehaltens, in denen wir mehr noch als sonst in dieser Zeit zu seelischer Ruhe und gedanklicher Klarheit gelangen, um uns dann umso aktiver und zuversichtlicher den Herausforderungen stellen zu können. So betrachtet stellt das Gerippe in Zwintschers Selbstbildnis die Sanduhr vielleicht auch gar nicht auf den Tisch, sondern ist im Gegenteil gerade dabei, sie wieder mitzunehmen.

Oskar Zwintscher (1870–1916) war ein Maler der Jahrhundertwende, dessen herausragendes Œuvre einer grundlegenden Neubewertung, ja vielfach überhaupt der Wiederentdeckung harrt. Zu Lebzeiten viel beachtet und kontrovers diskutiert, geriet sein Werk für lange Zeit aus dem Blick der Kunstgeschichte. Nur in Dresden, Leipzig und Meißen, den drei Lebensorten des Malers, ging das Wissen um die Qualität seiner Werke nicht verloren. Zwintscher schuf ausgesprochen eindringliche Gemälde des Jugendstils und Symbolismus, ungemein faszinierend sind auch seine überraschenden Vorgriffe auf die Neue Sachlichkeit.

Umso mehr freuen wir uns, diesem Künstler unsere große Frühjahrsausstellung widmen zu können. „Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900“ ist eine Kooperation mit dem Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Das Museum Wiesbaden ist ein idealer Ort für diese Ausstellung, denn bereits seit 1909 befindet sich ein Gemälde von Zwintscher in der Sammlung. Zwei weitere kamen durch die epochale Schenkung von Ferdinand Wolfgang Neess hinzu. Mit der Ausstellung knüpfen wir an unsere erlesene Jugendstilabteilung an und betrachten diese Epoche aus einem noch weitgehend unbekannten Blickwinkel.

Gerne begrüßen wir Sie über die Feiertage und im kommenden Jahr im Museum Wiesbaden. Kunst und Natur laden zum Staunen und Erfreuen, zu Erkundungen und Begegnungen ein. Jetzt aber möchte ich Ihnen, auch im Namen des gesamten Museumsteams, danken für Ihre verlässliche und zugewandte Unterstützung des Museums Wiesbaden sowie für die Begleitung und Anteilnahmen an unserer Arbeit. Ihre Förderung, insbesondere in Bildung & Vermittlung, bei Ankäufen, Ausstellungskatalogen und Sonderprojekten, ist ein Gewinn für alle. In diesen Dank schließe ich ebenso herzlich Vorstand, Geschäftsführung und das Kuratorium des Fördervereins mit ein.

Ihnen allen wünsche ich ein lichtes und erfüllendes Weihnachtsfest sowie einen heiteren Rutsch in ein hoffentlich friedvolleres neues Jahr

Ihr
Andreas Henning

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