Wir sind dabei
In jeder Lebensphase ein Lieblingswerk
Mit Gründungsmitglied Felicitas Reusch haben wir ein ausführliches Gespräch zu Ihrer Liebe zur Kunst geführt. Und so erfuhren wir, wie im Kindesalter alles begann – mit dem Walsdorfer Kruzifix. Felicitas Reusch ist heute Vorsitzende der Kunstarche, sie engagiert sich außerdem im Museumsverein Otto Ritschl und in der neu gegründeten Ludwig Knaus Gesellschaft.
Frau Reusch, haben Sie ein Lieblingswerk im Museum Wiesbaden?
Jede Lebensphase bringt auch ein Lieblingswerk mit sich, gesehen im Zusammenhang des Ausstellungsraumes. Als Kind war es der sogenannte Kirchensaal mit dem Walsdorfer Kruzifix, da lief mir zum ersten Mal der Schauer über den Rücken. Seit meinen Teenager-Jahren sprachen mich vor allem dann Säle mit abstrakter Kunst an und immer wieder Bilder von Otto Ritschl. Mit der Ausstellung „Modus Vivendi“ (Sammlung Ingrid und Georg Böckmann) im Jahr 1985 begriff ich zum ersten Mal Gerhard Richter und seine ganz verschiedenen Herangehensweisen, um zu einem Bild zu gelangen. 1988 kam dann durch den Ankauf der Sammlung Bekker vom Rath eine erweiterte Sicht auf den deutschen Expressionismus. Aus dieser Sammlung ist seitdem mein Lieblingsbild „Vieh im Pferch“ von 1933. Gewaltig steht der Ochse im engen Verschlag und blickt finster auf die sich duckenden Rinder. An der Jawlensky-Rezeption habe ich dann miterlebt, wie sich die Gewichtung von seiner expressionistischen Phase vor dem Ersten Weltkrieg zur abstrakten Phase der zwanziger Jahre verschob. Bei Jawlensky kann ich mich nicht für ein Lieblingsbild entscheiden. Mich fasziniert der Weg, den er genommen hat.
Welche Ausstellung ist Ihnen besonders positiv im Gedächtnis geblieben?
Die erste große Ausstellung von Volker Rattemeyer 1990 „Künstlerinnen des 20.Jahrhundert“. Da hatte er mit seinem Team einen großen Nachholbedarf aufgearbeitet. Der Katalog ist noch heute eine Fundgrube für mich. Die Knaus Ausstellung 1979 bleibt für mich ebenfalls unvergessen. Dann noch einmal sehr kenntnisreich 2014 von Peter Forster, vor allem aus eigenem Bestand. Er hat bewusst getitelt: „Knaus, ein Lehrstück“. Als Bewohnerin des ehemaligen Ateliers von Knauss freue ich mich über den gestiegenen Akzeptanzpegel.
Fühlen Sie sich heute auch mit der „Natur“ im Museum verbunden?
Ja, sicherlich. Die Natur ist noch viel kreativer und innovativer als alle Künstler zusammen! Im nächsten Leben würde ich Biologie studieren. Aber heute genieße ich das „Staunen“ meiner Enkel vor dem aufgerichteten Eisbär oder ihre Freude an den „stillsitzenden“ Vögeln. Ein Leben ist viel zu kurz, um all die Herrlichkeiten im Nordflügel zu betrachten und zu begreifen. Besonders liebe ich auch die amüsanten Filme von Vollrad Kutscher, etwa über die Veränderungen der Kartoffel, da rauscht mir die Zeit durch die Schläfen. Unvergessen auch die Ausstellung „Rheinromantik“ und wie mir Fritz Geller-Grimm die Schmetterlinge des Mittelrheintals näher gebracht hat.
Sagen Sie bitte noch ein Wort zur Kunstarche, die Sie leiten.
Nachlassverwaltungen und Kunstarchive entstehen zur Zeit in vielen Großstädten. Sie sind in einem Bundesverband mit Sitz in Berlin zusammengefasst. Durch die lange Friedenszeit und die starke Künstlerförderung hat sich ein Überhang an Kunst gebildet, dessen Sichtung und Aufbewahrung jetzt zur Herausforderung für uns wird. In Wiesbaden ist diese Einrichtung besonders sinnvoll, weil die ehemals städtische Galerie im Landesmuseum aufgegangen ist. Die Künstler einer Stadt leben in einem spannungsreichen Biotop, dessen Humus uns viele Fragen stellt. Die aktuellen Statements haben ihren Wert, aber auch die im Rückblick gewonnenen sind aufschlussreich. Unter einem Dach mit dem Stadtarchiv kann dort in aller Ruhe die Kunstgeschichte von Wiesbaden aufgearbeitet werden, so geschehen mit der Werkkunstschule Wiesbaden.
Die Fragen stellte Ingeborg Salm-Boost