Zehn Jahre Kunstarche
Wozu ein Archiv? Der zweite Blick
Bei den Vorbereitungen zu unserem Buch „Werkkunstschule Wiesbaden“ lernte ich auch den Sohn des Malers und Lehrers an der Werkkunstschule, Heinz-Rudi Müller (1919–2005), kennen. Er brachte das Kriegstagebuch seines Vaters mit zwölf Zeichnungen mit. Mich lenkte damals der ironische Titel ab „Meinem lieben Vati zum Geburtstag 1943“.
Natürlich wollte er dem „lieben Vati“ damit keine Geburtstagsfreude machen, sondern Gräuel und Elend des Krieges zeigen und darstellen, wohin die NS-Politik seinen Sohn geführt hatte. Ich nahm damals das Tagebuch als Dokument für einen Vater-Sohn-Konflikt in dieser Familie wahr.
Nun sitze ich vor dem Fernseher und betrachte Abend für Abend Fotos und Filmsequenzen vom Krieg in der Ukraine … Da kommen mir Heinz-Rudi-Müllers Zeichnungen vom Russlandfeldzug in die Erinnerung. Ein erneuter Blick unter dem Druck der traurigen Aktualität hält mir die Vorzüge der Zeichnungen klar vor Augen. Hier ist nicht nur ein genialer Zeichner am Werk, nicht nur ein Beobachter, sondern auch ein Täter. Dadurch bekommt die Sinnlosigkeit des Krieges eine große Intensität.
Im Archiv findet die wiederholte Betrachtung nach verflossener Zeit in einem veränderten Betrachter statt, und so entsteht in ihm ein anderes Bild vom Kunstwerk, obwohl sich dieses rein physikalisch, in einer dunklen Schublade gelagert, nicht verändert hat. Dadurch lernt der Betrachter auch mehr von sich selbst. Ist das nicht die tägliche Herausforderung: sich selbst kennen zu lernen?
Das ist natürlich auch der große Vorteil des Museums Wiesbaden, wo wir auch immer wieder – nach zeitlichem Abstand – dieselben Bilder und Skulpturen betrachten können.
Felicitas Reusch, Vorsitzende der Kunstarche