Zum letzten Mal Kaischana
Wie Sprachen sterben
„Mit fremden Federn“ lautet der Titel einer Ausstellung, die gegenwärtig im Museum Wiesbaden zu sehen ist und die Verwendung von Vogelfedern durch Menschen zum Gegenstand hat. Viele der Exponate stammen aus Brasilien, einem Land, in dem ich lange als Sprachwissenschaftler tätig war und in dem heute noch etwa 180 einheimische Sprachen gesprochen werden.
Weltweit gibt es etwa 6.000 oder 7.000 Sprachen. Eine genaue Zahl lässt sich nicht angeben, da es kein allgemein anerkanntes linguistisches Kriterium gibt, um abzugrenzen, ob zwei ähnlich sprechende Gruppen von Menschen zwei nahe verwandte Sprachen sprechen oder aber zwei sehr unterschiedliche Dialekte derselben Sprache. Daher kommen verschiedene Fachleute zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bestimmung der Anzahl der Sprachen einer Sprachfamilie.

Indigene Völker
Die meisten Sprachen werden von indigenen Völkern gesprochen. Darunter versteht man die Urbevölkerung von Gebieten, die unter die Herrschaft später zugewanderter Gruppen geraten sind. Die Ureinwohner werden dort häufig stark diskriminiert und finden nur schwer einen Platz in der Gesellschaft. Die Kolonisierung Nord- und Südamerikas sowie Australiens sind bekannte Fälle, die verheerende Auswirkungen für die Bevölkerung dreier ganzer Kontinente hatten.
In Afrika hat eine europäische Besiedlung in größerem Ausmaß nur im Süden des Kontinents stattgefunden. Der Süden Afrikas war die Heimat der San (Buschmänner), die als Jäger und Sammler lebten. Die San sahen sich neben der europäischen Kolonisation noch mit einer zweiten Migrationsbewegung konfrontiert: Afrikanische Ackerbauern drangen aus Zentralafrika immer weiter nach Süden vor und drängten die San in unwirtliche Regionen ab. Heute sind uns die San als Bewohner von Wüstengegenden bekannt. Dass sie dort leben, ist jedoch das Resultat ihrer Verdrängung aus fruchtbareren Gebieten.
Auch im bevölkerungsreichsten Kontinent, Asien, gibt es eine Vielzahl indigener Völker mit eigenen Sprachen und Kulturen, wie etwa die Nomaden Sibiriens, die durch die Expansion Russlands nach Asien unter europäischen Einfluss gerieten. Um ein Vielfaches größer ist die Zahl von Indigenen in Indien, einem Land, dessen ethnische Vielfalt in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Weniger komplex und besser bekannt ist die Lage in Sri Lanka, wo Singhalesen und Tamilen die beiden größten Bevölkerungsgruppen bilden. Beide Völker sind vom indischen Festland zugewandert. Die Vedda, die Ureinwohner Sri Lankas, machen heute nur etwa 0,01% der Bevölkerung der Insel aus.
Wie sterben Sprachen aus?
Weltweit ist heute eine Vielzahl von Sprachen im Untergang begriffen. Ein Grund für das Aussterben von Sprachen ist Völkermord, die physische Vernichtung eines Volkes, die auch zur Auslöschung seiner Sprache führt. Ein weiterer Grund ist Ethnozid, die Zerstörung der Kultur einer ethnischen Gruppe. Ethnozide gab es beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo indigene Kinder in Internaten zwangsinterniert wurden. Das Sprechen ihrer Muttersprache wurde ihnen dort verboten.
Aber auch ohne einen planmäßigen Ethnozid können gesellschaftliche Umstände Indigene zur Aufgabe ihrer Muttersprache veranlassen. In vielen Teilen der Welt leben Angehörige indigener Völker in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen. Gleichzeitig sind sie ethnischer Diskriminierung durch die wirtschaftlich und politisch dominante Bevölkerungsgruppe ausgesetzt. Dies führt zu einem Assimilierungsdruck, der häufig den allmählichen Verlust von Kultur und Sprache zu Folge hat. So gilt heute mehr als ein Drittel aller Sprachen weltweit als vom Aussterben bedroht.

In Brasilien ziehen viele Indigene auf der Suche nach einem besseren Leben aus ihren Dörfern in die Städte. Dort geben sie ihre Muttersprache häufig nicht an ihre Kinder weiter. Aber selbst wenn sie dies tun, werden die in der Stadt aufgewachsenen Kinder mit ihren eigenen Kindern in aller Regel nur noch Portugiesisch sprechen, sodass die indigene Sprache spätestens nach zwei Generationen verloren ist. Auf diese Weise können Sprachen fast unbemerkt verschwinden.
Mein Fachgebiet sind indigene Sprachen Nordbrasiliens, und so begab ich mich 2006 dort auf die Suche nach Sprechern des Kaischana, einer Sprache, über die etwa 50 Jahre zuvor das letzte Mal berichtet worden war. Zwar konnte ich in Orten am Ufer des Amazonas Angehörige des Kaischana-Volkes finden, jedoch hatten die dortigen Kaischana ihre Sprache schon vor so langer Zeit verloren, dass sie nicht einmal von deren Existenz wussten. Daraufhin setzte ich meine Suche an einem Nebenfluss des Amazonas, dem Japurá, fort. In einem Städtchen gleichen Namens traf ich schließlich auf Raimundo Avelino, den letzten bekannten Sprecher des Kaischana.

Leider stellte sich heraus, dass er die Sprache nicht mehr fließend beherrschte. Er war 73 Jahre alt und hatte mit seinen lange verstorbenen Eltern Kaischana gesprochen. Nach dem Tod seines Cousins, des vorletzten Sprechers, hatte er gar keine Möglichkeit mehr, die Sprache zu benutzen. Er konnte sich immerhin noch an viele Wörter und kurze Sätze erinnern. So hatte ich bei diesem und zwei folgenden Besuchen 2008 und 2009 die Gelegenheit, schriftliche Aufzeichnungen sowie Audio- und Videoaufnahmen zu machen und so die letzten erhältlichen Daten zum Kaischana festzuhalten.
Internationales Jahr der indigenen Sprachen
Was kann man tun, um zu verhindern, dass Tausende von anderen Sprachen das gleiche Schicksal ereilt wie Kaischana? Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 2019 zum Internationalen Jahr der indigenen Sprachen erklärt. Ziele sind die Förderung des Verständnisses für indigene Sprachen, ihre Einbindung in nationale Gesellschaften und die Stärkung der Sprecherinnen und Sprecher durch Kompetenzbildung. Die Förderung der indigenen Sprachen alleine wird jedoch das Sprachensterben nicht aufhalten können. Solange sich die soziale und wirtschaftliche Lage indigener Völker nicht verbessert, werden die Aussichten für viele Sprachen düster bleiben.
Stefan Dienst
Dr. Stefan Dienst ist Sprachwissenschaftler und Experte für amazonische Sprachen. Von 2002 bis 2016 war er bei indigenen Völkern Brasiliens tätig. Gegenwärtig ist er Assistant Professor an der Universität von Maryland. Der Wiesbadener ist den Freunden des Museums sehr zugetan und hat auch bereits am Vortragsprogramm des Vereins mitgearbeitet.
Titelbild: Kanamari-Kinder, Amazonas, Nordbrasilien (Foto: Dr. Stefan Dienst)