Aktion Sehnsuchtsobjekt (Teil 9)

Von Faszination und nahendem Ende

Schade, aber das Sehnsuchtsobjekt von Nikolas Jacobs können wir leider im Museum nicht ansteuern. Das Werk mit dem Titel „1976/11“ (Todesjahr von Otto Ritschl) ist zurzeit nicht zu sehen, sondern im Depot. Umso interessanter, wie detailliert und mit großem Hintergrundwissen der 29-jährige Kunsthistoriker dieses Bild beschreibt. Jacobs gehört dem Freundeskreis an und engagiert sich im Vorstand des Ritschl-Vereins, der den Nachlass des Malers, der übrigens zunächst als Schriftsteller von sich reden machte, verwaltet. Vier frühere Werke Ritschls sind aktuell, und noch bis Ende August, im Museum zu sehen. Von Ritschl zu Alexej von Jawlensky, der ja derzeit mit Marianne von Werefkin in der Ausstellung „Lebensmenschen“ besonders präsent ist. Keine Frage, dass „Helene im spanischen Kostüm“ die Blicke auf sich zieht – das Werk, das der Wiesbadener Sammler Frank Brabant schon vor Jahren dem Museum Wiesbaden geschenkt hat. Rena Buderus mag es immer wieder betrachten und ist fasziniert von der Geschichte dahinter. Faszination – das trifft auch auf Julie Ann Garcias Beziehung zur Jugendstil-Dauerausstellung, Schenkung F.W. Neess, zu. In ihrer Muttersprache attestiert die Museumsfreundin, die schon viele Jugendstil-Sammlungen gesehen hat, dass die Wiesbadener eine der besten ist.


Faszinierende Geschichte

Rena Buderus schreibt: „Immer wieder zieht es mich zu meinem absoluten Sehnsuchtsobjekt, das zurzeit in der Ausstellung ,Lebensmenschen‘ zu sehen ist. Es ist dort in Lebensgröße ,Helene im spanischen Kostüm‘ (ein Geschenk von Frank Brabant an das Museum Wiesbaden). Allein die Geschichte und das Leben dieses Dienstmädchens ist faszinierend. Sie wurde von der Malerin Marianne von Werefkin eingestellt. Diese lebte 29 Jahre mit Alexej von Jawlensky zusammen. 1902 bekommt Helene den Sohn Andreas, sein einziges Kind. Jawlensky heiratet sie und zieht mit ihr nach Wiesbaden in die Beethovenstraße. Was für eine schöne Geschichte des Lebens eines grandiosen Lebenskünstlers und Malers.“

Alexej von Jawlensky „Helene im spanischen Kostüm“ (um 1901/02), Schenkung Frank Brabant (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Don’t miss any of this!

Julie Ann Garcia schreibt: „If you have not been to the Wiesbaden Art Museum at the corner of Rheinstrasse and Wilhelmstrasse/Friedrich-Ebert-Allee, it is well-worth your visit!  Particularly noteworthy is the F.W. Neess Art Nouveau (Jugendstil) exhibit. This exhibit is among the best collections of Art Nouveau that I have ever seen anywhere. It has an incredible variety of pieces, including glass lamps resembling more plants than lamps, beautiful furniture, creative figures, and fascinating paintings.  But there are other wonderful exhibits in addition to the Art Nouveau. Among them are a collection of numerous, brightly colored paintings by Russian Expressionist Alexej von Jawlensky, who lived in Wiesbaden; a Natural History section; and 12th Century Classical through Contemporary Art. Don’t miss any of it!“

Alphonse Mucha „Die Natur“ (um 1899), Jugendstilsammlung F.W. Neess (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Nicht sofort gesehen …

Nikolas Jacobs schreibt: „Das Werk mit dem schlichten Titel ,1976/11‘ von Otto Ritschl ist nicht mein einziges Sehnsuchtsobjekt im Wiesbadener Museum. Aber da ich es bislang überhaupt erst zweimal in den Museumsräumen sehen konnte, ist hier die Sehnsucht besonders groß.

Man sieht ein Bild sofort oder man sieht es nie. Die Erklärungen dienen zu nichts. Warum erklären? Diese berühmte Einschätzung Paul Cézannes hat der Maler Ritschl zu Lebzeiten immer wieder zitiert, quasi als Anleitung für alle Betrachter seiner Kunst. Und tatsächlich ist es eine Herausforderung, sich dem Spätwerk Ritschls und insbesondere auch meinem Sehnsuchtsobjekt sprachlich anzunähern. Wie soll man gegenüber anderen auch erklären, weshalb man ein bestimmtes Kunstwerk besonders schätzt?

Ich versuche es trotzdem, indem ich Cézanne und Ritschl zumindest bei einem Wort widerspreche, dem ,sofort‘. Nein – sofort – also voraussetzungslos ein Bild zu ,sehen‘, zu ,verstehen‘ ist die Ausnahme, nicht der Regelfall. Und es sind oft jene Kunstwerke, die bei mir am längsten nachwirken, die ich nicht sofort ,sehe‘, sondern die eine gewisse produktive Reibung beim Betrachter erzeugen.

Für mich gilt: Das Spätwerk Ritschls habe ich keineswegs ,sofort‘ gesehen. Im Gegenteil es hat lange gedauert, bis ich seine Bedeutung erkannt hatte. Die strengen Kompositionen aus der geometrischen Phase der 50er Jahre mochte ich von Beginn an – aber diese wolkigen Gebilde danach? War das nicht irgendwie esoterische Gefühlsduselei? Mir zumindest sagte das zunächst wenig, vor allem weil ich Ritschl immer verglich mit dem wunderbaren Bild von Mark Rothko, das im Museum häufig neben seinen Werken hing. War der malerische Ansatz der beiden nicht sehr ähnlich und zeigte dabei der direkte Vergleich nicht die großen Schwächen des Lokalmatadoren? So dachte ich – und war damit in einer Sackgasse gelandet.

Tatsächlich – ein deutscher Rothko war Ritschl nicht. Sein Werk ähnelt dem des US-Amerikaners, aber es ist doch etwas ganz anderes. Während Rothko seriell arbeitete, indem er immer das gleiche Grundmotiv variierte, spielte bei Ritschl die kompositionelle Binnenstruktur eine entscheidende Rolle: Für jedes Bild komponierte er eigens einen abstrakten Bildraum. Wer diese Eigenständigkeit von Ritschls später Malerei verstanden hat, blickt anders auf diese Bilder. Dann – aber erst dann – ,sieht‘ man sie sofort.

Bleibt zuletzt die Frage offen: Warum gerade sehne ich mich unter den Hunderten von Werken aus dem Spätwerk ausgerechnet nach der Komposition 1976/11? Es ist eines der letzten Werke von Ritschl, der es im Alter von 90 Jahren wenige Wochen vor seinem Tod in seinem Atelier in der Wiesbadener Schumannstraße vollendete. Er wusste um seinen nahenden Tod. Und man ahnt, dass dieses Wissen auch Eingang in das Bild gefunden hat. Im Kontrast zu den anderen Bildern aus dieser Zeit herrschen hier gedämpfte Farben vor und eine schwarze Form im rechten Bildhintergrund dominiert die Komposition. Schon bei meiner ersten Begegnung mit diesem Bild empfand ich es unwillkürlich als altmeisterlich. Und mit der Zeit wurde dieser Eindruck immer stärker: Dieses Bild war in seiner Haltung näher an Tintoretto, näher vor allem am späten Tizian als an der übrigen Malerei der 70er Jahre in der Bundesrepublik. Vor allem mit Tizians grandiosen Werken Pietà (Venedig) und Dornenkrönung (München) scheint mir dieses Bild 1976/11 über die Jahrhunderte hinweg verwandt: Wie bei diesen berühmten Vor-Bildern löst sich auch bei Ritschls Bild die Komposition zunehmend auf, je näher man an die Leinwand herantritt, letztlich bleibt für das Auge dann nur das Abstrakte der Malerei übrig. Und schließlich sind es bei Tizian wie bei Ritschl ,letzte Bilder‘, Werke also, die ihre Grandezza wohl auch aus dem Bewusstsein für das nahende Ende beziehen. Komposition 1976/11 ist für mich daher Ritschls Pietà und wenn ich dieses Bild betrachte, muss ich unaufhörlich an den Beginn von Goethes Faust denken: Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten …“

Otto Ritschl „1976/11“, Dauerleihgabe des Otto Ritschl-Vereins (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

 

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