Die Freunde auf Reisen
documenta 17 in Kassel
Es war schon eine geballte Ladung von documenta Experten, die sich am 7. Juli auf den Weg machten. Die einen waren bereits bei der 1. documenta 1955 dabei, die anderen eher Newcomer.
Aber sprachlos waren alle 15 Teilnehmer als sie den Tempel der Zensoren, den Parthenon, erblickten. Marta Minujin erbaut ihn aus zirka 70 000 weltweit verbotenen Büchern zentral auf dem Friedrichsplatz. Die Bücher stellen Bürger der Republik der documenta zur Verfügung. Selbst Harry Potter ist darunter, verboten in einigen Bundesstaaten der USA. Und am Abend entfaltet der Tempel der zensierten Weisheit eine magische Wirkung (siehe Fotos von der Reise der Freunde des Museums Wiesbaden in der Fotogalerie).
Ohne fachkundige Führung durch die sogenannten Choreos ist es schwierig, wenngleich nicht unmöglich, in vergleichsweise kurzer Zeit (3 Tage) die documenta in sich aufzusaugen. Aber Wilma Estelmann, die engagierte liebenswürdige Reisebegleiterin, hatte wie üblich alles hervorragend organisiert.
Insgesamt fünf Choreos (Führerinnen) begleiteten uns zu den diversen Ausstellungsorten.
Beeindruckt waren die Freunde von den Wohnröhren des kurdisch-irakischen Künstlers Hiwa K., der Betonröhren zeigt von der Art, in denen er während seiner Flucht aus dem Irak mehrere Wochen ‚überlebte’.
Und dann das Herzstück jeder documenta: das Fridericianum, der zentrale Spielort der documenta. sowie das ‚documenta Haus’. Festschmaus und purer Kunstgenuss für jeden Kunstfreund – das Auge weiß nicht, wo es zuerst hinschauen soll:
Die purpurroten Wollschläuche der chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuna mit ihren diversen Knoten, symbolisch für Blut aber auch für die Quipu, die Knotenschrift der Inkas, stehend. Das ‚Stacheldrahtlager als bedrohliche Skulptur des Südafrikaners Kendell Geers; die ‚inszenierte Naturkatastrophe’ als Audi-Video-show von Bill Violas. Das alte Equipment der Fix-Brauerei hat Mona Hatoum zu ihrem ‚Envirement Fix it’ verarbeitet. Oder die Bootswracke des Künstlerduos Annie Vigier & Franck Apertet – dargestellt als Reflexion über Machtrepräsentation oder auch Requisiten einer Flucht. Stanley Whitneys farbfröhliche Farbfeldraster-Bilder sind ebenso beeindruckend wie die durchaus beklemmend wirkenden Bilder traumähnlicher Gemälde von Miriam Cahn: hier hatten nicht wenige Freunde durchaus dran zu ‚knabbern’.
Das Programm mit rund 12 km Laufwege pro Tag war durchaus ambitioniert und dennoch konnten nicht alle Orte besucht werden.
Gefreut haben sich die Teilnehmer über eine kleine private Führung durch Dr. Renate Petzinger, die in der Karlskirche – abseits der offiziellen documenta – die Sound-Installation der indischen Künstlerin Shilpa Gupta und das Projekt „Ein Leuchtturm für Lampedusa“ des Berliner Künstlers Thomas Klipper vorstellte.
Beeindruckend auch die Arbeiten des Dresdner Künstlers Olaf Holzappel im Palais Bellevue – da hatte so jeder seine Lieblingsausstellungsstücke.
Abends blieb Zeit um neben Kunst auch anderen Genüssen zu frönen – Kassel bietet in diesen Tagen eine Menge für allerlei leibliches Wohl. Die Stadt vibriert vor Menschen – die schwüle Luft war zum Zerschneiden.
Das fiel besonders in den Ausstellungsräumen der Alten Hauptpost, der Neue Neue Galerie auf. Hier hatte die documenta ‚Denkräume’ geschaffen – ein durchaus interessanter Gegensatz zu der äußeren Brutalität dieses Waschbetonbaus. Besonders beeindruckend u.a. die Video-Arbeit von Theo Eshetu, ‚Atlas Fractured’ – Gesichter echter Menschen auf Bannern mit antiken Köpfen Berliner Museen. Oder ‚The Reading Room’ von Rasheed Araeens. Nachdenklich machte das Projekt von Dan Petermann mit seinem ‚Kassel Ingot Project’ – säckeweise Eisenbarren, die an Kassels ehemaliger Schwerindustrie erinnern sollen.
Und mittendrin auf einem Fußgängerweg am Kurt-Schumacher-Ring trafen die Freunde unvermittelt auf sechs Frauen der Performance-Gruppe ‚Spinal Disciplin’ von Irena Haiduk, Bücher auf dem Kopf balancierend.
Die Freunde des Museums, auch in kleineren Gruppen auf Erkundungstour gehend, waren hellauf begeistert von den Installationen auf der Karlsaue vor der Orangerie; die Aue war bei der documenta 13 das Zentrum der Ausstellung.
Die Holzskulptur ‚Trassen’ brachte nicht wenige Kunstinteressierte zum Grübeln, was der Künstler Olaf Holzapfel damit wohl gemeint habe. Da war es etwas einfacher, die Blutmühle von Antonio Vega Macotela, originalgetreu nachgebaut, zu verstehen: eine mechanische Prägeanstalt für Münzen im Freien.
Das ‚Denkmal der Willkommenskultur’‚ von Olu Oguibe auf dem Königsplatz, 16,20 m hoch, ein Obelisk, begrüßte die Freunde an jedem Morgen und Abend mit seinem in vier Sprachen dargestellten Bibelspruch: Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.
2017 findet erstmals eine Doppel-documenta statt: in Athen und Kassel, zeitlich versetzt, jeweils 100 Tage. Kasseler Bürger, mit denen wir sprachen, hatten im Vorfeld die Sorge, ob ‚ihre’ documenta aus Kassel abgezogen werden sollte. Nein, das ist auf keinen Fall beabsichtigt, war auch die Aussage von Adam Szymcyk und seiner Kuratoren. Der Leiter der diesjährigen documenta, durchaus nicht unumstritten, hat wieder ein eigenes Gesamt-Kunstwerk auf die Beine gestellt – rd. 1 Million erwartete Besucher werden sich ‚ihr’ Bild machen.
In den Straßen und den Ausstellungsräumen war die Internationalität dieser grandiosen Weltausstellung zu spüren. Und es entwickelten sich großartige Gespräche zwischen den Freunden und Besuchern aus Korea, Italien, Frankreich oder Skandinavien – in der Mensa der alten Hauptpost. Oder im Eiscafé am Königsplatz.
Über allen Highlights aber steht eines: der Tempel der Zensoren – das Parthenon, wie auch die Zeitschrift ART in ihrer Sonderausgabe treffend berichtet. Grandios bei Tag und Nacht – so haben die Freunde des Museums Wiesbaden ‚ihre’ documenta empfunden.