Interview mit Maria Anna Tappeiner

„Man muss erst in die Tiefe gehen“

Das Interesse an Alexej von Jawlensky, seinem Leben und Schaffensweg ist immer wieder groß. Gerne erinnern wir uns an die Ausstellung „100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“, die in die ganze Stadt ausstrahlte. In Wiesbaden war der russisch-deutsche Künstler von 1921 bis zu seinem Tod 1941 zu Hause. Hier wurde er begraben. Nun hat die Filmschaffende Maria Anna Tappeiner dem Künstler eine Dokumentation gewidmet, in der es vor allem um seine Gesichter und Figurenbilder geht. Im Vorfeld der Premiere im Museum Wiesbaden, die auf riesiges Interesse stieß und bei der auch Jawlensky-Enkelin Angelica Jawlensky-Bianconi anwesend war, hatten wir mit der Regisseurin das Interview führen können. Der Film ist hier bei Arte zu sehen. Übrigens: Das Museum Wiesbaden hat unter den 111 Werken von Alexej von Jawlensky, so sagt es mir Kustos Roman Zieglgänsberger, in seiner Sammlung acht Vorkriegsköpfe (darunter das Selbstbildnis), drei Heilandsgesichter, 15 Abstrakte Köpfe und 15 Meditationen.


Frau Tappeiner, was war der Auslöser für Ihre Kulturdokumentation über den Maler Alexej von Jawlensky?

Ich bin schon sehr lange Jawlensky-Fan und hatte schon länger im Kopf, mich filmisch mit ihm zu befassen. Eigentlich wäre „100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ im Jahr 2021 schon ein guter Anlass gewesen. Nun kommt die Dokumentation zum 160. Geburtstag.

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Was erwartet die ZuschauerInnen? Es gibt ja das Zitat des Künstlers: „Im Gesicht offenbart sich das Universum“.

Beim filmischen Erzählen ist die Verkürzung und Verdichtung wichtig, man muss einen Fokus setzen. Da war es für mich naheliegend, mit den Köpfen und Figurenbildern zu arbeiten, da sie sich durch sein ganzes Werk ziehen. Es gibt noch ein tolles Zitat von Jawlensky zu seinen Abstrakten Köpfen: „Sagen Sie jedem, dass das kein Gesicht ist. Es ist das nach unten Abschließende, das nach oben sich Öffnende, das in der Mitte sich Begegnende.“ Hier zeigt sich die spirituelle, religiöse Dimension von Jawlensky, die  zu seinem letzten großen Thema, dem inneren Schauen, führte.

Alexej von Jawlensky: Köpfe aus verschiedenen Schaffensphasen 1912-1936, © Osthaus Museum Hagen, Museum Wiesbaden, Kunstmuseum Basel u. a.

In der Ankündigung heißt es, Sie verfolgen den Lebensweg des russisch-deutschen Künstlers mit allen Höhen und Tiefen.

Der Film erkundet vor allem die Zeit des Aufbruchs und der künstlerischen Neuorientierung im Umfeld des „Blauen Reiters“. Ich schaue zunächst auf naturalistische Köpfe, die er noch in Russland gemalt hat, dann auf die Vorkriegsköpfe, schließlich auf die intensive Phase nach dem Krieg mit Heilandsgesichtern und den Abstrakten Köpfen bis hin zu den Meditationen. Es ist spannend, wie sich sein Leben entwickelt, etwa mit Marianne von Werefkin – die Zeit in München. Ein Schlüsselmoment aber ist Murnau, das kollektive Arbeiten dort mit Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und mit Marianne von Werefkin, dann die Befreiung von allen Einflüssen, der sich vor allem aus den Landschaftsmotiven entwickelte eigene Stil. Es beginnt das expressive und intuitive Arbeiten.

Es war sicher eine aufwendige Recherche-Arbeit …

Ja. Ich muss zunächst ein Exposé entwickeln und dafür braucht man zum Austausch kundige Gesprächspartner. Hier war mir Roman Zieglgänsberger sehr wertvoll. Eine Filmproduktion mit guter Vorbereitung kann sich schnell mal über ein Jahr hinziehen. Das ist fast wie eine Magisterarbeit. Man muss ja erst den künstlerischen Ansatz verstehen und in die Tiefe gehen. Dann erst kommen Verkürzung und Verdichtung.

Wo überall waren Sie auf den Spuren Jawlenskys?

Von zwölf Drehtagen haben wir drei in Wiesbaden gearbeitet, nicht nur in der Sammlung des Museums, sondern beispielweise auch auf dem Russischen Friedhof, in der Stadt, dort, wo Jawlensky sich bewegt hat, und in der Beethovenstraße, wo er wohnte. Dieser Jawlensky-Pfad, den es während der Ausstellung 2021 gab, war sehr interessant.

Dreh im Restaurierungsatelier im Museum Wiesbaden mit Restauratorin Ines Unger, 2023 (Foto: M.A. Tappeiner)

Und wo haben Sie noch gedreht?

In München, natürlich in Murnau – vor allem im Schlossmuseum und auch im Münter-Haus, in Paris, wo es die Einflüsse von van Gogh oder etwa Cézanne gab, in der Bretagne und in der Schweiz.

Dort haben Sie im Jawlensky-Archiv auch seine Enkelin, Angelica Jawlensky Bianconi, getroffen …

Sie war neben Kustos Zieglgänsberger die wichtigste Interview-Partnerin. Aus erster Hand konnte ich vieles zu dem Leben und Arbeiten ihres Großvaters erfahren. Sie leitet ja das Jawlensky-Archiv.

Vielleicht hat die Enkelin Ihnen erzählt, dass sie das Porträt ihrer Großmutter Helene, „Frau mit Stirnlocke“, besonders liebt?

Das Porträt kommt im Film auch vor. Helene war sein wichtigstes Modell, er hat sie so oft gemalt.

Angelica Jawlensky Bianconi im Museum Wiesbaden vor der „Frau mit Stirnlocke“ (1913). Es zeigt ihre Großmutter Helene Nesnakomoff. (Foto: Salm-Boost)
„Frau mit Stirnlocke“, dieses Werk von 1913 ist auch in der Dokumentation zu sehen. Für die Freunde-Website ließ sich 2019 Angelica Jawlensky Bianconi vor dem Porträt ihrer Großmutter Helene Nesnakomoff fotografieren. Es ist ein Lieblingsbild der Enkelin. (Foto: Ingeborg Salm-Boost)

Wie gefällt Ihnen eigentlich das größte Jawlensky Bild in der Sammlung, die von Mäzen Frank Brabant dem Haus geschenkte „Helene im Spanischen Kostüm“?

Das ist ein frühes Bild, nah am Stil des deutschen Impressionismus. Man merkt, dass er sehr verliebt in sie war. Das zeigt sich vor allem in der Größe des Gemäldes und auch am selbstbewussten Blick der Helene.

Gibt es ein Werk, das Ihnen persönlich besonders am Herzen liegt?  

Schwierig, sich festzulegen. Da könnte ich sein Selbstporträt, auch „Nikita“ oder die „Frau mit Fächer“ nennen, ebenso die Abstrakten Köpfe oder die Variationen über ein landschaftliches Thema.

Vergangenes Jahr, als meine Kollegin Martina Mulcahy und ich für die Serie „Kinder erklären Kunst und Natur“ mit einer Elfjährigen unterwegs waren, hat sie sich das Heilandsgesicht  „Erwartung“  für unser Video ausgesucht. Offenbar strahlen Jawlenskys Gesichter schon auf Kinder eine Faszination aus …

Dieses Werk hat es auch in den Film geschafft. Sie sollten wissen, dass wir stark auswählen müssen. Aber Roman Zieglgänsberger steht im Film tatsächlich auch vor dem Heilandsgesicht „Erwartung“, er geht u.a. auf das Spirituelle des Bildes ein.

Alexej von Jawlensky, Heilandsgesicht: Erwartung, 1917 (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Ihr Schwerpunkt sind KünstlerInnenporträts. Wie wählen Sie aus?

Ich muss mich natürlich immer fragen: Was möchte ich machen und was ist beim Sender durchsetzbar. Gut ist es natürlich, wenn es einen aktuellen Anlass gibt. Ich befasse mich entweder mit Themen der Klassischen Moderne oder mache auch Porträts über zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen, was ich sehr liebe.

Schauen wir zum Schluss nochmal in unser Museum: Gibt es hier einen Künstler, eine Künstlerin, bei dem oder der Sie sich vorstellen können, den Lebens- und Schaffensweg filmisch zu verfolgen?

Ja, es gibt zwei Künstlerinnen aus der Sammlung des Museums Wiesbaden, über die ich gerne einen Film machen würde, da denke ich an Eva Hesse und Rebecca Horn.

Das Gespräch führte Ingeborg Salm-Boost


Zur Person
Maria Anna Tappeiner ist in Wiesbaden geboren. Ihr Magisterstudium der Kunstgeschichte und Romanistik absolvierte sie in Köln. Seit 1999 ist sie Autorin, Journalistin und Regisseurin für das Fernsehen, vor allem für 3sat und Arte. Es sind vor allem längere Dokumentationen und Künstlerporträts entstanden, etwa über Künstlerinnen des Surrealismus, ebenso über Marc Chagall, Richard Serra, William Kentridge, Sophie Calle oder Nam June Paik. Daneben realisiert Maria Anna Tappeiner Ausstellungsfilme für Museen und künstlerische Experimentalfilme abseits der Formatvorgaben des Fernsehens.  Zu ihrem Schaffen sagt sie: „Meine Kulturdokus und Künstlerporträts gehen immer vom Werk und der künstlerischen Haltung aus. Sie verbinden Arbeitsbeobachtungen mit Gesprächen über die Arbeitsweise der KünstlerIinnen und erforschen die Hintergründe der Werkentstehung. Trotz oder gerade wegen der ähnlichen Herangehensweise ist jeder Film anders, bedingt durch die unterschiedlichen Ansätze und Künstlerpersönlichkeiten.“ www.mariatappeiner.de

 

Maria Anna Tappeiner ist unter anderem auf Künstlerporträts spezialisiert und hat sich nun Alexej von Jawlenskys angenommen. (Foto: privat)

 

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