Jugendstil entdecken
Alles ist Wasser
Zum Ende der der großen Sonderausstellung „Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund“ im Museum Wiesbaden lohnt sich noch einmal ein zusammenfassender Rückblick auf diese außergewöhnliche Präsentation, die sich dem Phänomen „Wasser“ in ihren unterschiedlichsten Facetten widmete.
Als omnipräsentes mediales Zeichen zeigte sich das Motiv des Wassers in der Kunst um 1900. Wasser, die Urmaterie ohne feste Form, ließ sich als artifizielle Gegenwelt für unterschiedliche Stimmungs- und Seelenbilder heranziehen, sich darin zu bewegen und zu verlieren.
Magisch angezogen von jenen geheimnisvollen dunklen Tiefen entsprach das Wasser dem zeittypischen gesellschaftlichen Konsens nach sowohl esoterischer Versenkung und symbolhafter Bedeutung als auch den Erkenntnissen von neuen, sehr unterschiedlichen Wissenschaften wie der Ozeanographie, Soziologie und Psychoanalyse. Es ergab sich somit eine außerordentliche Melange, die sich aus diesen zahlreichen divergierenden Einflüssen speiste.
Die Bildwelt der Jahrhundertwende bevölkerten Meerjungfrauen, Sirenen, Najaden und Nymphen, oftmals weibliche Mischwesen aus Mensch und Tier, verlockend in ihrer erotischen Nacktheit und den langen bewegten Haaren, allerdings oftmals unheil- und todbringend.
Die sich anbahnende neue Kodierung der Geschlechter, durch die Wissenschaft der Psychoanalyse befördert und durch das Aufkommen eines modernen Frauentypus herausgefordert, fand hierin ein sexualisiertes Gegenbild, das sich der Realität entziehen konnte.
Im Wasser herrscht ein scheinbar inaktiver Zustand, der die frei bewegten, assoziativen Strömungen und Bilder einer zweiten, dunkel verborgenen Wirklichkeit zuließ. Okkultismus, Hypnose, Magie und Traum, das Nachtseitige, der Einblick in dunkle Abgründe war mit einer herbeigesehnten Angstlust besetzt. Das Wasser, Ursprung des Lebens, gilt als weibliches Symbol, zugeordnet dem Mond und damit der Nacht, der Dunkelheit und dem Verborgenen, eine Voraussetzung, die der Gefühlslage des Art Nouveau entgegen kam.
Durch die Naturwissenschaften wie Biologie, Zoologie, Meereskunde, Medizin und der revolutionären Psychoanalyse mit ihrer bahnbrechenden Forschung zur Sexualität ergab sich eine faszinierende Melange für die Gefühlswelt der Jahrhundertwende. Aber auch Kunst und Kunstgewerbe nahmen in ungewohnter Weise Anteil an den geheimnisvollen Wasserwelten. Die Lebewesen der Tiefsee und des Wassers wurden als Motive und Dekore bildwürdig: Muscheln, Quallen, Korallen, Medusen, Schnecken, Fische erschienen schlagartig als ungewöhnliche Kunstobjekte. Die „Kunstformen der Natur“, ein kenntnisreiches Kompendium des Biologen Ernst Haeckel, 1900 erschienen, sorgte für außergewöhnliche Popularität jenes sonst verborgenen Kosmos. Aber auch diese Artefakte zeigten oftmals jene unterschwellige, subkutane Sinnebene, die auf einen sexualisierten Blick verwies:
„Ich liebe die Muscheln, … die großen Seemuscheln, die sich mächtig bäumen, um ihre Spirale in eine, einem Munde gleichende gähnende Öffnung zurückzuwerfen, jene Muscheln, deren enthüllter Perlmutterkörper verwirrend wirkt wie Orchideen.“ (Henry van de Velde, Amo, Leipzig 1912, Inselbücherei Nr. 3)
Ingeborg Becker
Zur Person
Dr. Ingeborg Becker war seit 1985 stellvertretende Direktorin des Bröhan-Museums – Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus – sowie von 2003 bis 2013 Direktorin und Vorstand der Stiftung Bröhan-Museum Berlin. Die Kunsthistorikerin ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zu Kunst und Kunstgewerbe um 1900. Als Kuratorin verantwortete sie zahlreiche europäische Länderausstellungen zu Malerei und Kunstgewerbe um 1900 im Bröhan-Museum sowie Ausstellungen zur Jugendstil-Sammlung des Museums. (red)