Kunstvoll und Naturnah

Kleine Collage von großer Bedeutung

Im Verlauf der Jahre 1964 und 1965 vollzieht Eva Hesse in ihrem Werk einen fundamentalen Wandel. Sie lässt die Malerei, die sie seit Anbeginn ihres Studiums begleitet hatte und deren erste künstlerische Versuche in die frühen 1950er Jahre, also in die Jugendzeit Hesses zurückreichen, hinter sich und wendet sich mit dem Frühsommer 1965 ausschließlich plastischen Arbeiten zu.

Mit ursächlich dafür mag der 15-monatige Studienaufenthalt in Deutschland gewesen sein (dem Land ihrer Geburt, aber auch der persönlich erfahrenen Flucht vor den Nazis). Sie hatte gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bildhauer Tom Doyle, die Einladung erhalten, ein Jahr lang in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Genau genommen war es zunächst Tom Doyle, den Arnhard Friedrich Scheidt aus Kettwig an der Ruhr (heute ein Vorort von Essen) einlud, eine Etage in einem stillgelegten Gebäudeteil seiner Textilfabrik zu beziehen. Scheid hatte die beiden auf einer Amerika-Reise des Düsseldorfer Kunstvereins kennengelernt und angesichts der loftartigen Arbeitsräume in der New Yorker Bowery (die ihn an seine eigene Fabrik erinnerten), die spontane Idee geäußert, den Künstler und seine Frau über den Atlantik zu bringen. Nicht zuletzt, weil ihm dies einfacher erschien, als die schweren Steinskulpturen Doyles, die sein spontanes Interesse gefunden hatten, per Schiffsfracht zu spedieren.

So reiste im Juni 1964 die Malerin Eva Hesse nach Europa und kehrte im Herbst 1965 als Plastikerin zurück. Eine Künstlerin, die zudem wenig später aus dem Schatten ihres Mannes hervortreten und innerhalb von nicht einmal fünf Jahren eines der bedeutendsten skulpturalen Werke des 20. Jahrhunderts schaffen sollte.

Eva Hesse: Unbetitelt, 1964, Collage (Gouache, Tusche, Bleistift auf Papier), Allen Memorial Art Museum, Oberlin College, Schenkung Helen Hesse Charash © The Estate of Eva Hesse. Galerie Hauser & Wirth Zürich

Die kleine Collage mit der Inschrift „about boxes + arrows“, die wohl noch vor ihrer Abreise aus New York entstanden ist, scheint diese Wendung hin zum Plastischen, zum Raum, bereits vorwegzunehmen. Ähnlich wie auf einigen Gemälden dieser Zeit – im Besonderen sei hier auf „Ohne Titel 1964“ aus der Sammlung des Museums Wiesbaden verwiesen – verwendet sie Würfelformen, die in unterschiedlichen Perspektivansichten durch das Bild zu fallen scheinen. Dabei interessiert sie sich jedoch nicht nur für die räumliche Darstellung, sondern ebenso für die malerisch differenziert ausgestalteten Seitenflächen der Würfel. Der Kartonausschnitt der Collage erinnert ein wenig an einen Faltplan, dessen einzelne Teile aus der Mitte heraus in den Raum entwickelt werden können. Zugleich sind am oberen Ende einzelne Stücke ergänzt, greifen sozusagen über die Grenzen der Darstellung hinaus. Obwohl flach, vermittelt die Collage einen extrem räumlich Eindruck, der durch das spielerische Ineinanderschieben der Würfelformen noch verstärkt wird. Dazu tragen auch die Pfeile bei, die als Bildelemente, zugleich aber auch als Handlungsanweisungen, das Bild im Zentrum zusammenschieben, wie auch nach oben in den Raum erweitern.

Die flächigen Formen bilden eine Art Architektur, die statisch gebaut und räumlich lesbar erscheint. Der Blick wandert wie auf Treppen über die verschiedenen Ebenen. Die Pfeile, wie auch die perspektivisch gegebenen Flächen, führen durch den Raum. Bildobjekt und Bildzeichen treten ein in ein Vexierspiel, das Perspektivkonstruktion und Bildgegenstand ineinander verzahnt. Die Elemente am oberen Rand (Pfeilstaffel, Schriftzeichen, als auch farbige Flächen) erzeugen dabei einen Bruch, der das Bild zurück in die Fläche zieht.

Abgesehen von der reinen Bildarchitektur, die sich aus Wiederholungen, Reihungen und Variationen grundlegender Elemente (Fläche, Quader, Pfeil) zusammensetzt, bieten gerade diese Grundelemente inhaltliche Verknüpfungen an, mit denen die kleine Collage als Scharnierstück im Werk Eva Hesses beschrieben werden kann. Ausgehend von einer malerischen Position, die mittels Farbe eine wie auch immer geartete Räumlichkeit in der Fläche erzeugt, die darüber hinaus diesem Bild mittels linearer Setzungen eine Perspektive einschreibt, entwirft Hesse hier einen skulpturalen Bauplan, der sich keineswegs mehr mit der Zweidimensionalität zufrieden zu geben scheint. Die Kisten (Boxes) selbst stehen für den Raum, den sie umfassen, definieren in ihrer Anordnung darüber hinaus aber auch den Raum, in dem sie sich befinden – eine letztlich skulpturale Perspektive. Die Pfeile schließlich deuten Bewegung an: der Objekte im Raum, wie auch des Betrachters, der – wäre es am Ende nicht doch „nur“ eine zweidimensionale Angelegenheit – unterschiedliche Perspektiven einnehmen könnte. Zudem bringt diese Beweglichkeit als Veränderbarkeit eine spielerische Komponente mit ein, die der festgezurrten Bildform eine klare Absage erteilt. „boxes + arrows“: Statik und Bewegung, mithin Setzung und Offenheit – wenige Jahre später werden dies zentrale Kriterien der plastischen Arbeiten Eva Hesses sein.

Schon im Übergang in den Raum, den sie im Frühjahr des Jahres 1965 vollziehen sollte, lässt sich Eva Hesse auf ungewohntes Material ein, auf Fundstücke, Reste, offensichtlich nicht zusammengehörende Einzelteile, die sie künstlerisch überarbeitet und zu einer abgeschlossenen Form zusammenbringt. Einer Form, die sich zugleich ihre spielerischen Ansätze bewahrt. Die Reliefs der Kettwiger Zeit sind noch Bilder, erinnern nicht nur in ihrer Farbigkeit an die vorangegangene Malerei; zugleich aber sind es Materialcollagen, die gerade im Spiel, im Experiment mit dem Werkstoff ihre besondere Form erhalten. Eine Form, die sich nicht mehr allein in der Zweidimensionalität bändigen lässt. Bald darauf, nach ihrer Rückkehr an die Bowery, gibt sie die Buntfarbigkeit auf, arbeitet zunächst in schwarz und grau – bis wenig später mit den Materialien Latex und Fiberglas deren spezifische Eigenschaften form- aber auch farbgebend werden. War die Veränderbarkeit der Werke bei den Reliefs nur angedeutet oder auf einige „Handgriffe“ beschränkt, bieten ihr diese Werkstoffe nun sowohl im Prozess, wie auch in der Form der Präsentation eine offene Auseinandersetzung, die das Ergebnis nicht abschließend vorhersehen lässt beziehungsweise in der Präsentation gar nicht mehr abzuschließen sucht. Der spielerische Umgang Eva Hesses mit dem Material, der sie selbst als Künstlerin aus der Fläche in den Raum geführt hat, wird in der Offenheit ihrer späten Arbeiten zum Angebot an den Betrachter, sich nun ebenfalls auf dieses Spiel einzulassen. Dass dabei kein Chaos entstehen muss, hat Hesse selbst gezeigt. Die Ernsthaftigkeit im Verfahren, im Umgang mit dem Material, das stets intensiv befragt wurde, um daraus eine erweiterte, veränderte Bildlichkeit zu entwickeln, ist Voraussetzung, um zuletzt diese Offenheit auch zulassen zu können.

Nun ist unsere Collage weder als Puzzle konzipiert, noch tatsächlich variabel und veränderbar. Und doch trägt sie bereits vieles von dem in sich, was Eva Hesse später explizit herausarbeiten sollte: Das Aneinanderfügen unterschiedlicher Elemente, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal differieren (Linie als Raumkante, als Flächenbegrenzung, als Teil eines Pfeilsymbols, als Schrift), aber auch die Wiederholung ähnlicher Elemente, die in Reihung oder Perspektivwechsel intensiv befragt werden und folglich die Form der Collage als solche, als ein bildnerisches Prinzip, das hier schon den Weg von der Fläche in den Raum aufzeigt. Aber auch ihre Gemälde aus dieser Zeit tragen diese Kennzeichen. Das Befragen einzelner Elemente durch die dialogische Addition, das intensive „Lesen“ der einzelnen Formen kündet von Hesses Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen, aber auch mit dem Neuen, dem Unerwarteten. So wie sie später Form und Raum beständig aufs Neue zu testen sucht, erforscht sie hier die potenzielle Bildlichkeit einer Darstellung, die zwar in der Fläche geordnet, mittels Polyperspektive und in der Kombination unterschiedlicher Felder und Elemente aber stets offen und variabel erscheint. Drehen, wenden, ergänzen, addieren, experimentieren sind dabei Begriffe, die sowohl bildnerisch in der Komposition, wie auch allgemein im Umgang mit dem Material die Arbeitsweise von Eva Hesse kennzeichnen.

Indem sie für die kleine Collage zeichnet, beschriftet, ausschneidet und klebt, experimentiert sie eben nicht nur mit den dargestellten Formen, sondern auch mit dem verwendeten Material. Und gerade deswegen könnte die Collage auch Bauplan und Skizze für ein dreidimensionales Schaffen sein – in direktem, aber auch in übertragenem Sinne. Selbst die Beschriftung scheint in diese Richtung zu deuten. Bei genauer Betrachtung ergeben die Maßangaben jedoch wenig Sinn oder scheinen zumindest unvollständig: „10 Zoll auf 10 Zoll mal 10 im Quadrat […]“, am Ende dann „OMIT“, also weglassen, auslassen? Der verwendete Karton jedenfalls misst tatsächlich ungefähre 10 Zoll in Höhe und Breite, auch wenn die dritte Dimension hier selbstverständlich fehlt. Wer weiß, welcher Zufall hier eine Rolle gespielt haben mag? Am Ende jedenfalls ist es wohl doch kein fertiger Plan, sondern ein spielerisches Aufnehmen unterschiedlicher Elemente, ein Hinzufügen und Wegnehmen im Prozess, ohne das Ergebnis vorab schon zu kennen oder vorwegnehmen zu wollen.

Gerade dies macht die Qualität der kleinen Papierarbeit aus, sie ist weder Konzept noch Skizze, weder rational minimalistisch noch gestisch abstrakt. Mit ihrer Offenheit und ihren spielerischen Elementen ist sie vielmehr Produkt und zugleich Beleg der besonderen Arbeitsweise Eva Hesses, die sich zunächst in Gemälden und Zeichnungen, ab Mitte der 1960er Jahre dann vor allem aber in den plastischen Arbeiten Bahn brechen soll. Die kleine Collage „about boxes and arrows“, also über Kisten und Pfeile, ist eine Wegmarke dieser Entwicklung und für Eva Hesse vielleicht ein kleiner Schatz, ein Zufallsfund, eine spielerische Skizze ihres eigenen Weges, die Parameter der bildenden Kunst in Bewegung zu halten.

Jörg Daur


Dr. Jörg Daur, stellvertretender Direktor des Museums Wiesbaden, ist Kustos für moderne und zeitgenössische Kunst.

 

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