Kunstvoll und Naturnah

Abstraktes Meisterwerk eines großen Einzelgängers

Otto Ritschls „Komposition 1956/6“ als Motiv des Mitgliedsausweises 2021 des Freunde-Fördervereins des Museums Wiesbaden (Foto: Museum Wiesbaden)

Der Maler Otto Ritschl ist in Wiesbaden ein bekannter Unbekannter. Die meisten haben schon von ihm gehört, viele haben auch schon einmal eines seiner Bilder gesehen, aber einen wirklichen Überblick über sein vielfältiges, sich über ein halbes Jahrhundert erstreckendes Werk konnte man sich zuletzt vor über zwei Jahrzehnten anlässlich der Retrospektive im Museum Wiesbaden verschaffen.

Ab den späten 40er Jahren gibt Ritschl seinen Bildern keine spezifischen Titel mehr, stattdessen heißen sie fortan alle „Komposition“ und werden mit Entstehungsjahr und Werknummer bezeichnet. Ritschl merkte hierzu nüchtern an: „Man wird sich daran gewöhnen. Niemand fragt in einem Konzert, was eine Sonate darstelle.“

Tatsächlich erübrigt sich die Frage nach dem, was dargestellt ist, beim Anblick eines abstrakten Meisterwerks wie bei der für den künftigen Mitgliedsausweis ausgewählten „Komposition 1956/6“. Dieses Bild wurde noch im Entstehungsjahr vom Museum „unter Beihilfe des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung und des Nassauischen Kunstvereins“ erworben. Mit einer Größe von 155 x 220 cm gehört es zu den Großformaten in Ritschls Werk.

Knapp fünf Jahre, von 1954 bis 1959, dauerte Ritschls sogenannte „geometrische Periode“, in der seine Werke klar umrissene Formen und einen konstruktivistischen Bildaufbau zeigen. Mit diesen formal strengen, farblich jedoch – wie im Falle der hier gezeigten Komposition – oft heiteren und leichten Bildern grenzte sich der Maler deutlich von den zur gleichen Zeit vorherrschenden informellen Tendenzen in der europäischen Malerei ab. Der Kunsthistoriker Kurt Leonhard (1910–2005) hat Ritschl nicht ohne Grund als den „großen Einsamen der zeitgenössischen Malerei“ bezeichnet. Ritschl war künstlerisch tatsächlich ein Einzelgänger, ein Nonkonformist, und er war es mit einem gewissen Stolz, wie diese Bemerkung aus seinen Erinnerungen erkennen lässt: „Als der Tachismus wie ein Steppenbrand wütete, malte ich ‚geometrisch‘, und als von Amerika her wieder harte Formen eingeführt wurden, erschienen meine wie fließende Wolken.“

Otto Ritschl „Komposition 1956/6“ (1956) aus der sogenannten geometrischen Periode, 155 x 220 cm (Foto: Museum Wiesbaden/Ed Restle)

Was bleibt sonst noch über das Bild zu sagen, das seit über einem halben Jahrhundert die Museumssammlung bereichert? Nicht viel, hätte wohl Ritschl geantwortet und auf Paul Cézannes berühmte Einschätzung verwiesen: „Man sieht ein Bild sofort oder man sieht es nie. Die Erklärungen dienen zu nichts. Warum erklären?“ In diesem Sinne: Freuen Sie sich am neuen Motiv auf der Karte. Und wenn Sie nun Lust bekommen haben, noch mehr über Ritschl zu erfahren und weitere Werke von ihm zu sehen, besuchen Sie doch die Internetseite des Museumsvereins www.otto-ritschl.org oder abonnieren den offiziellen Instagram-Account otto_ritschl_official.

Nikolas Werner Jacobs


Zur Person:
Seit Oktober dieses Jahres ist Nikolas Werner Jacobs Vorsitzender des Wiesbadener Museumsvereins Ritschl e. V. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, das den 29-Jährigen auch nach London führte, und einem Bachelorabschluss in Politikwissenschaften und Recht, promoviert Jacobs gegenwärtig an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Dissertation behandelt die Entstehung und Verwendung der Bilder deutscher Spitzenpolitiker seit 1949 im Kontext der politischen Ikonographie. Erfahren Sie mehr über Nikolas Werner Jacobs, der seit 2007 Mitglied bei den Freunden des Museums Wiesbaden ist, hier im Interview.

Und werfen Sie hier mit Prof. Dr. Tom Sommerlatte, Kuratoriumsmitglied bei den Freunden, einen Blick auf die Sammlung „Abstrakte Ikonen“ aus Ritschls Nachlass, die das Museum Wiesbaden 1988 als Dauerleihgabe erhielt.

 

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