Museum als Ort der Berührung

Gastbeitrag einer Zukunftsforscherin

Sommer 2019 – Menschen fächeln sich gegenseitig Luft zu, schreiten durch die Ausstellungsräume, die Situation ist getränkt von Erhabenheit. Es scheint beinahe so, als wären die Besucherinnen und Besucher Teil der neu eröffneten Dauerausstellung – die Sammlung von F.W. Neess mit Meisterwerken des Jugendstils und Symbolismus –, die nun im Museum Wiesbaden zu sehen ist. Menschen mit Fächern vor den Gesichtern bewegen sich zwischen Mobiliar, Glas, Keramiken, Lampen und Gemälden – und fügen sich mystisch in die Ausstellungsarchitektur ein. Man fühlt die Schwere, die geheimnisvolle Dunkelheit des Jugendstils, man spürt das Lebensgefühl des Fin de Siècle in jeder Pore.

Unterwegs in der Jugendstil-Ausstellung: Museum Wiesbaden/Schenkung Ferdinand Wolfgang Neess (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Das Spiegelobjekt „Jupiter im Oktogon“ weist den Weg hinaus aus dieser Zeit, hinaus in die Helligkeit, hinaus in die Sommerhitze. Es ist wie ein Vermittler zwischen zwei Welten: Der wohligen Schwere und der sommerlichen Heiterkeit. Draußen sitzen die Menschen auf der Treppe, plaudern, die Kinder springen im Wasser, es gibt Streetfood und kühle Getränke. Es herrscht eine mediterrane Atmosphäre, entspannt, voller Freude und Leichtigkeit. Kunst und Kultur, Lernen und Lebensfreude – die perfekte Symbiose.

Museum Wiesbaden: Oktogon, Blick in die Kuppel mit der Installation „Jupiter im Oktogon“ von Rebecca Horn, erworben im Rahmen der Verleihung des Alexej von Jawlensky-Preises 2007 der Landeshauptstadt Wiesbaden (Foto: Bernd Fickert/Museum Wiesbaden)

Heute scheint diese Leichtigkeit, die Unbekümmertheit von gestern beinahe naiv, ja schon fast unvernünftig. Werden wir je wieder in solch eine Stimmung eintauchen – Kunst und Kultur wieder mit allen Sinnen erleben können? Unbeschwert, offen, mit kindlicher Neugier und Naivität?

Eines ist in den vergangenen Monaten klar geworden: Museen können sich verändern – und sind inzwischen im digitalen, vernetzten Zeitalter angekommen. Kunst und Kultur können zwar digital gezeigt werden, aber nicht erfühlt werden. Die Kunsterfahrung ist eben keine rein visuelle! Sie wird mit allen Sinnen erlebt: Der Geruch der Ölfarbe oder der alten Gegenstände aus einer anderen Zeit, die gedämpften Stimmen der anderen Besucher und Besucherinnen, der Wunsch die Texturen oder Farbschichten nachzufühlen oder die Objekte anzufassen – und es meist nicht zu dürfen – umso mehr erfreut es, wenn die haptische Erfahrung ausdrücklich erwünscht ist. Das Nichtverstehen bei manchen Kunstwerken, die Aha-Erlebnisse bei anderen. Das Eintauchen in eine längst vergangene Zeit und das Durchwandern der Vielfalt der Natur. Der Besuch im Museumscafé rundet das ganzheitliche Kultur-Erlebnis für viele Menschen ab.

Auf Tuchfühlung mit den großen Tieren: Auch die ganz kleinen Besucher erfreut ein Besuch der Naturabteilung. (Foto: Elke Fuchs)

Museen sind längst keine verstaubten Institutionen mehr, die alte Kultur(en) bewahren, Kulturgüter katalogisieren, sondern Sehnsuchtsorte, die Geschichten erzählen: Geschichten von alten Zeiten, Geschichten von anderen Kulturen, Geschichten von großen Genies – und vieles mehr. Museen berühren. Sie sind einerseits Orte des Staunens, der Ehrfurcht, der Erhabenheit – andererseits Orte der Kommunikation und Interaktion. Nie fühlt man sich einsam. Und Menschen sind auf der Suche nach Nähe und Berührung. Die Sehnsucht wächst – in Zeiten, in denen man im Alltag auf Distanz gehen muss und die physische Nähe zwischen Menschen immer mehr eingeschränkt wird, braucht es gerade eine emotionale Ansprache. Museen sind Orte, an denen sich Menschen berühren lassen können. Ganz ohne sich nahe zu kommen. Hoffentlich bald wieder mit allen Sinnen.

Janine Seitz

Forscht am Zukunftsinstitut in Frankfurt, das sie seit Februar 2021 leitet: Janine Seitz (Foto: privat)

Zur Person:
Janine Seitz, seit Februar 2021 Geschäftsleiterin des Zukunftsinstituts in Frankfurt am Main, ist dort bereits seit über zehn Jahren als Trend- und Zukunftsforscherin tätig. Sie verantwortet die Publikationsreihe der Reports zu den unterschiedlichsten Themen, die sie kontinuierlich weiterentwickelt und ausbaut. Nach einem Studium der Kulturanthropologie und europäischen Ethnologie, das sie lehrte, die Gegenwart zu beobachten und einen scharfen Sinn für Veränderungen zu entwickeln, führte sie ihr Berufsweg zur Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Analyse und längerfristigen Prognose von Wandlungsprozessen beschäftigt.
Das Zukunftsinstitut wurde 1998 von Matthias Horx gegründet und hat die Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland von Anfang an maßgeblich geprägt. Heute gilt das Unternehmen als international führender Ansprechpartner bei Fragen zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Forscher- und Beraterteam an den Standorten Frankfurt am Main und Wien geht in seiner Arbeit der Frage nach, welche Veränderungen – welche Trends und Megatrends – unsere Gegenwart prägen und welche Rückschlüsse sich daraus für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft ziehen lassen. Oberstes Ziel ist es, den Wandel begreifbar zu machen und Zukunft als Chance zu verstehen.

may


Titelbild: Unterwegs in der Jugendstil-Ausstellung: Museum Wiesbaden/Schenkung Ferdinand Wolfgang Neess (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

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