Ein neues Selbstbildnis
Alois Erbach ringt mit sich selbst
Vor ziemlich genau vier Jahren habe ich bereits für die Webseite der Freunde des Museums Wiesbaden über ein „Selbstbildnis“ von Alois Erbach (1888–1972) geschrieben, über den Künstler, der – obwohl er mit Otto Dix und George Grosz in Berlin befreundet war und ausgestellt hatte – noch viel zu unbekannt ist. Tatsächlich gibt es noch nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag zu dem Maler. Erbach gehört aber nicht nur deshalb zu den Künstlern, die das Museum Wiesbaden zu pflegen und zu erforschen hat, weil er in der Stadt geboren wurde und verstorben ist, sondern weil die Qualität seines Werks zwischen den beiden Weltkriegen, mit dem er einen maßgeblichen Beitrag zur Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit geleistet hat, außergewöhnlich ist und er vermutlich nur aufgrund des Nationalsozialismus in völlige Vergessenheit geraten ist. Nach dem Krieg war Alois Erbach ein Anschluss unmöglich gewesen, obwohl er mit geometrisch abstrakten Werken versucht hatte, Schritt zu halten – vergeblich.
Vor vier Jahren war der Anlass, über Erbach zu berichten, die Ausstellung zur phänomenalen Kunstsammlung Frank Brabants, die neben Größen wie Max Beckmann oder Alexej von Jawlensky auch ein wunderbar reichhaltiges Sammelbecken ist für Künstlerinnen und Künstler, die noch entdeckt werden müssen. In der Sammlung Brabant befindet sich seit vielen Jahren ein Selbstbildnis Alois Erbachs aus dem Jahr 1927, in dem sich der Künstler herausfordernd lässig im Trenchcoat (Stefan Derrick hätte ihn nicht besser tragen können) mit übereinandergeschlagenen Beinen und Zigarette dargestellt hat.
Uns ist es nun Anfang des Jahres gelungen, mit Hilfe der Freunde des Museums Wiesbaden – also mit Ihrer Unterstützung! – das direkte Pendant zu diesem in der Sammlung Brabant befindlichen Selbstporträt zu ersteigern. Dass es ein solches überhaupt gibt, war bis dahin gar nicht bekannt. So ist das bei unerforschten Künstlerinnen und Künstlern: Es tauchen immer wieder Dinge auf, die nur interessant sind, weil man zuvor an anderer Stelle (ausdrücklicher Dank an Frank Brabant!) bereits auf den Künstler aufmerksam gemacht wurde. Möglich geworden ist diese kleine, aber wichtige Erwerbung deshalb, weil die „Abteilung Klassische Moderne“ kürzlich für sich „etwas“ dazuverdient hat. Es gibt nämlich eine interne, äußerst motivierende Absprache: Für jeden Workshop, den ein/e Kurator:in am Museum für den Förderkreis durchführt – es handelt sich um eine exklusive, mehrstündige Veranstaltung mit intensivem Einblick hinter die Kulissen einer großen Sonderausstellung – gibt es ein Honorar von 1.000 Euro. Und das kann unbürokratisch verwendet werden, um fürs Museum Kunst zu erwerben. Manchmal nämlich benötigt man gar nicht viel mehr, um ein Werk zu erwerben, das präzise (beispielsweise) nur in Wiesbaden Sinn macht. Durch den im Oktober 2021 abgehaltenen letzten Workshop zu unserer Jubiläums-Ausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ waren die Mittel vorhanden, dieses bislang unbekannte Werk Erbachs bei dem Auktionshaus Villa Grisebach in Berlin zu ersteigern.
Aber was macht das neue Selbstbildnis, das nicht nur gleichgroß, mit dem gleichen Papier und in der identischen Technik (Aquarell) ausgeführt wurde, sondern auch im selben Jahr entstanden ist, so spannend? Im Gegensatz zu seinem Partnerbild sitzt Erbach jetzt frontal und ruhig da. Er spielt keine geheimnisvolle Figur mehr, die uns übersieht und mit sich selbst kein Problem hat. Im neuen Blatt konfrontiert sich Erbach mit sich (ohne Mantel und Polstersessel, also ohne schützende Hülle) und wirkt dabei fast ein wenig verloren. Es scheint, als ob der Künstler dieses Blatt allein für sich gemalt hätte. Und dass er auf dem anderen, in der Sammlung Brabant, eindeutig eine Rolle einnimmt, so wie dies jeder Mensch, der sich in der Welt bewegt, bewusst oder unbewusst tut. Diese Interpretation liegt insofern nahe, weil beide Arbeiten, die formal so viel miteinander gemein haben, knapp nacheinander entstanden sein dürften. Allein durch die großen Ähnlichkeiten und die zeitliche Nähe (vermutlich liegt nicht mehr als eine Woche, vielleicht sogar noch nicht einmal ein Tag zwischen ihnen) wird die inhaltliche Gegensätzlichkeit erst anschaulich. Wie zwei Seiten einer Medaille: Bleibe ich bei mir, gibt es nur mich, wende ich mich nach außen, habe ich meinen Kern zu schützen und nehme die Rolle ein, die die Gesellschaft, zu der ich gehöre, für mich vorsieht. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Signaturen der beiden Blätter. Während eine gut sichtbar oben links mit Tusche angebracht wurde (für uns), ist die andere unten links sehr unauffällig mit Bleistift ausgeführt worden (was bedeutet, dass sie ihm in dem Blatt, in dem er bei sich bleibt, deutlich unwichtiger ist).
Durch die Entdeckung und glückliche Erwerbung des neuen Blattes konnte die inhaltliche Bedeutung des Selbstbildnisses in der Sammlung Frank Brabant, die bis dahin nur latent spürbar war, belegt werden. Damit konnte mir „ein Licht aufgehen“, wie Alois Erbach selbst einmal sagte, als er in einem früheren Selbstbildnis, Innenraum und Innenleben subtil miteinander verschmelzen ließ. Die von der Decke herabhängende Zimmerlampe beleuchtet nämlich nicht nur das Blatt, auf dem er die Sonne von draußen innen auf dem Papier festhalten möchte, sondern steht auch dafür, dass er just in diesem Moment einen im übertragenen Sinne augenöffnenden „Geistesblitz“ hatte, wie er sein Vorhaben umzusetzen habe. Hier wird deutlich, dass künstlerische Arbeit aus nichts weniger als dem Dreiklang von Wahrnehmung der Welt, Denkprozess und Umsetzung besteht. Was für ein Künstler!
Roman Zieglgängsberger
Erfahren Sie mehr über Dr. Roman Zieglgänsberger, Kustos Klassische Moderne, hier im Interview.