Gesichter des Museums

Folge 12: Jörg Daur – Kustos moderne und zeitgenössische Kunst

„Kann gut sein, wenn sich Dinge ändern …“

Wir sitzen im Innenhof des Museums unter einem Kirschbaum. Ein größerer Tisch, einige Stühle, drumherum blühende Topfpflanzen. „Hier machen wir gerne mal Pause“, sagt Jörg Daur – und ist bereit zum Gespräch mit mir für die  Serie „Gesichter des Museums“. Der stellvertretende Direktor und Kustos moderne und zeitgenössische Kunst wirkt entspannt, offen, reflektierend. Eigentlich hatten wir für diese Freunde-Website längst schon einmal ein Interview mit ihm machen wollen, doch dann überschlugen sich die Ereignisse: Direktor Alexander Klar kündigte seinen Wechsel nach Hamburg an, Vize-Direktor Jörg Daur wusste um eine harte Zeit mit noch mehr Arbeit. Er bewarb sich auch um die Leitungsfunktion – ahnend, dass eher jemand von außen kommen würde. So wie er die Zeit während der Entscheidungsfindung unter Federführung des zuständigen Ministeriums mit seinen Kollegen gut gemeistert hat, so ging er auch an den Start mit dem neuen Chef. Ein Start mit Corona und mit besonderen Herausforderungen. Es lief und läuft gut, sagt Jörg Daur. Und das sieht man beim Besuch im Museum bestätigt. Lassen wir ihn erzählen, wie alles so läuft …   


Ein großer Eva Hesse-Fan: Kustos Jörg Daur vor ihrem Werk „Sans II“ (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Jörg, am Thema Corona kommen wir nicht vorbei. Lass es uns gleich zu Anfang abhandeln: Wie hast Du diese extremen Pandemie-Wochen im besucherlosen Haus wahrgenommen, wie habt Ihr das Krisenmanagement aufgestellt?

Das habe ich schon als spannende Zeit erlebt, herausfordernd. Vieles musste zum ersten Mal durchdacht und gemacht werden. Bei einem Pandemie-Plan muss jedes Detail ganz genau beachtet werden, die Struktur des gesamten Hauses ist zu prüfen, beispielsweise galt es auch, sich um Zugangsberechtigungen zu kümmern …

Im Krisenstab, den es ja auch jetzt noch braucht, sind sicher Kollegen aus den verschiedensten Abteilungen.

Ja, wir sind zu sechst, Verwaltung, Personalrat, Technik, Vertreter aus den Abteilungen Kunst und Natur und natürlich der Chef. Das hat sehr gut geklappt. Dann gibt es aus den verschiedenen Bereichen noch zehn Kollegen, gemeinsam bilden wir das Kernteam.

Bleiben wir mal beim neuen Direktor, der im März anfing und dann kurz darauf gleich seine neue Wirkungsstätte schließen musste. Wie hast Du ihn erlebt?

Ich muss sagen: Als einen besonnenen Menschen, der natürlich auch sehr viel nachfragte. Ich persönlich war und bin sehr froh, in dieser Krisensituation nicht mehr allein zu sein. Gut, dass der Lockdown nicht einen Monat früher kam. Wir haben uns ergänzt, er hat seinen Blick von außen mitgebracht. Aber überhaupt kann man sagen, hier arbeiten sehr fähige Kolleginnen und Kollegen zusammen.

Du klingst nicht so, als ob es Panik-Stimmung gab …

Nein, die gab es nicht. Ich würde die Wochen kurz vor und während der Schließung nicht als schrecklich dramatisch bezeichen, aber sie waren höchst beeindruckend – und es ging alles, hier passt das Wort – dramatisch schnell. Du erinnerst dich: Eröffnung im kleineren Stil von „Lebensmenschen“, keine 500 Gäste wie sonst üblich, und keine Vorträge am Eröffnungsdonnerstag. Sonntag darauf mussten wir dicht machen. Es gibt ja klare Regeln für uns als Landesmuseum.

Es gab und gibt es zum Teil noch viel Homeoffice bei den Museumsmitarbeitern, nicht nur für gefährdete Kollegen.

Ja, das stimmt. Jetzt gibt es noch Homeoffice für Mitarbeiter mit gesundheitlichen Problemen oder mit Betreuungsbedarf zu Hause. Die Voraussetzungen wurden geschaffen, dass wir am Hessen-PC auch zu Hause arbeiten konnten. Aber es war auch viel im Haus zu tun. Zeit zum Aufräumen, wie mancher meint, hatten wir keineswegs.

Du hast als kommissarischer Direktor mit den Kollegen einen guten Job gemacht, kennst das Museum in- und auswendig. Weiß der neue Direktor das zu schätzen?

Ja, das ist so. Ich konnte ihm viel vermitteln, ihn unterstützen. Für Andreas Henning war es schon schwierig, wegen Corona erst einmal keine Kontakte machen, nicht so tief einsteigen zu können wie es eigentlich normal gewesen wäre beim Start.

Sprechen wir mal über Dich. Du hattest Dich ja auch um den Posten beworben, doch dann kam jemand von außen. Wie geht man damit um?

Also, ich hatte das nicht in erster Linie für mich getan, sondern fürs Haus, das mir am Herzen liegt. Natürlich hätte ich mir die Leitung zugetraut, wollte es machen. Aber mir war klar, dass eher ein Externer ausgewählt wird. Eigentlich dachte ich auch, es wird eine Frau. Für mich stand fest, wenn jemand kommt, mit dem ich nicht kann, dann suche ich eine andere Herausforderung. Kommt jemand, mit dem ich zusammenarbeiten kann, bleibe ich.

Und mit Andreas Henning, der ja als Teamplayer gilt, kann der stellvertretende Direktor?

Ja, das hat sich in dieser schwierigen Situation schon gezeigt. Natürlich war ich am Anfang enttäuscht. Aber ich empfinde die jetzige Konstellation als tragfähige Lösung, nachdem wir uns näher kennengelernt haben. Mit Alexander Klars Weggang hatte ich nicht gerechnet. Nun würde ich aber sagen: Erst beweint man Dinge, andere kommen. Aber es kann auch für das Haus gut sein, wenn sich Dinge ändern.

Du gehst positiv in diese neue Zeit.

Ja, sie bietet mir auch schöne Möglichkeiten. Im veränderten Haus kann ich neu anfangen, ohne den Standort zu ändern.

Wie meinst Du das?

In meinen Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst kann ich mehr Zeit investieren. Ich hatte viel mit Verwaltung, etwa mit dem Haushalt, zu tun. Andreas Henning will mir mehr Zeit lassen für die Kunst. Seit April 2019 ist ja auch eine Verwaltungsfachfrau und Juristin mit halber Stelle hier, Patricia Becker-Matthews. So werde ich mich mehr um die Abteilungsleitung Kunst kümmern. Ich denke, die neue Situation insgesamt – natürlich erst recht nach Corona – wird ein Gewinn sein.

Wie beurteilst Du die Situation jetzt, nach der Schließung, aber mit vielen Einschränkungen? Der freie Samstag, der nun schon zweimal wieder stattgefunden hat, soll ja super gewesen sein.

Ja, die wurden bestens angenommen. Es läuft den Umständen entsprechend überdurchschnittlich gut. Ausstellungen konnten verlängert werden, „Lebensmenschen“ zieht an, auch wenn wir unser Ziel von 70.000 Besuchern hier nicht erreichen können. Aber mein Kollege Roman Zieglgänsberger kann sich trösten: Die von ihm und seiner Münchener Kollegin kuratierte Ausstellung war schon in München ein voller Erfolg. Manches haben wir verschoben, um Ressourcen zu schonen.

Gehen wir mal zurück zu Deinen Anfängen: Erst einmal die Frage, Du hast mit Volker Rattemeyer begonnen, der stellte dich ein, dann kam Alexander Klar. Zwei höchst unterschiedliche Leiter …

In ihrer Unterschiedlichkeit sind sie gleichwohl erfolgreich gewesen und beide haben fürs Museum Wiesbaden wichtige Impulse gesetzt. Bei Volker Rattemeyer habe ich viel gelernt – organisieren, kuratieren, taktieren …

Und mit Alexander Klar?

Er hat es verstanden, die Menschen in der Breite zu begeistern. Als er kam, war der Umbau des Seitenflügels ja schon in vollem Gange. Bis 2004 war übrigens nur für die Kunst geöffnet. Ich habe noch Zeiten erlebt, als wir 1.600 Quadratmeter hatten und nur zwei Toiletten. Dann hatten wir plötzlich 7.000 Quadratmeter. 2010, als Alexander kam, waren wir alle knapp 40, ein junges Team mit Lust auf Spektakuläres. Zum Beispiel die Sache mit dem Fluxus-Pavillon vor dem Museum …

Volker Rattemeyer war aber nicht so nah an der Stadt?

Das stimmt. Die Öffnung des Hauses war Alexander Klars Linie. Und dank der Neugestaltung draußen kann das Museum sozusagen jetzt in die Stadt winken. Dass Volker Rattemeyer die Altertümer abgegeben hatte, war richtig. Aber Kunst und Natur, das kommt mehr und mehr zusammen, und das ist gut so.

Wie würdest Du denn die Zeiten bewerten?

Ich sage: Zehn Jahre Rattemeyer, zehn Jahre Alexander Klar, beide haben Bewährtes geschaffen. Es ist auch nicht immer schlecht, wenn sich Dinge ändern.

Gehen wir noch weiter zurück, Du hast schon als Praktikant hier gearbeitet.

Spannend war die Zeit, als ich Assistent von Vollrad Kutscher war und half, seine Ausstellung aufzubauen. Das muss vor 20 Jahren gewesen sein.

Vollrad Kutscher, übrigens Mitglied bei den Freunden, stellt doch dieses Jahr im Kunsthaus aus, und Ihr seid Leihgeber.

Am 12. Dezember ist die Eröffnung. Da geht es auch um alte Arbeiten von ihm und wie sie entstanden sind. Er zeigt aktuelle Videoproduktionen, und von der großen Arbeit „Der weiße Traum“, der im Museumsdepot ist, leihen wir die Vorstudien und Skizzen aus.

Andreas Henning sagte in einem Interview, in diesem Fall sei das Museum „Juniorpartner“.

Das ist richtig.

Mit welcher Ausstellung warst Du zum ersten Mal als Kurator aktiv?

2003 mit dem Belgier Berend Hoekstra, da ging es um Kunst und Natur. Freunde-Mitglied Jan Teunen hatte das angeregt. Da hielt ich auch zum ersten Mal eine Eröffnungsrede. 2004 ging es mit dem Umbau los.

Was sind für Dich die drei prägendsten Ereignisse in diesem Museum?

Die Eva Hesse-Ausstellung 2002. 2006 die Neueröffnung des Foyers. 2010, noch vor Alexander, kamen zwei Kustoden: Peter Forster und Roman Zieglgänsberger. Da war die Abteilung Kunst schon anders aufgestellt worden. Die stellvertretende Direktorin Renate Petzinger verabschiedete sich in den Ruhestand, zuvor war die Kustodin Ingrid Koszinowski, in deren Hand die gesamte Betreuung der Sammlungen lag, in den Ruhestand gegangen. Und nun wurde aufgeteilt in Gegenwart, Klassische Moderne und Alte Meister.  Eine völlige Neustruktuierung noch durch Volker Rattemeyer, nach der die Programmgebung nicht mehr beim Direktorium alleine lag. Und das hat Alexander Klar beibehalten. Vorher übrigens waren die Alten Meister so gut wie nie präsent im Museum.

Was ist Deine nächste Ausstellung?

Winston Roeth, da spielt das Thema Farbe eine große Rolle. Ich hoffe sehr, dass er im September zum Aufbau und zur Eröffnung aus New York kommen kann.

Mit der „Jungen Malerei“, gleichzeitig an drei Orten, und jetzt, im Nachhinein, in Teilen in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen, warst Du zufrieden?

Es war eine tolle Erfahrung, zusammen mit Kollegen aus anderen Städten, aus Bonn und Chemnitz, in Ateliers unterwegs zu sein. Wir haben so viele junge Menschen mit frischem Wind in ihren Projekten kennengelernt. Und die Eröffnung bei uns mit gleichzeitiger Jubiläumsfeier der Freunde war sehr gelungen. Für eine Ausstellung mit weitgehend noch unbekannten Künstlern war der Zuspruch gut.

Ein Wort zum Museum Reinhard Ernst nebenan!

Ich verspreche mir viel davon. Ein zweites Haus an diesem Platz, es wird überregionalen und internationalen Zuspruch haben. Unsere Kulturmeile gewinnt ungemein. Auch wir werden unseren Anteil an überregionalen Besuchern deutlich steigern. Im Moment fehlen uns die Tagestouristen, es macht kaum einer Städtereisen.

Es soll ja auch Zusammenarbeit geben.

Ja, ganz bestimmt. In Bildung und Vermittlung, im Marketing, im Ticketing. Und auch inhaltliche Kooperationen sind gut denkbar.

Ein Wunsch steht noch frei fürs Museum.

Natürlich, dass der Erweiterungsbau so bald wie möglich kommt. Die Bilder leiden, wenn sie nicht dauernd in Räumen hängen, und die Sammlung wollen wir doch dauerhaft präsentieren.

Ist es richtig dass es derzeit, ohne Erweiterung, große Depot-Probleme gibt?

Ja, das ist fatal. Wir haben jetzt aber ein Lager für Kunstwerke bei Köln angemietet. Ein anderes Lager ist in Biebrich.

Wie nimmst Du den Freunde-Verein wahr?

Die Freunde sind eine besondere Stütze des Museums über viele Jahre schon, diese ehrenamtliche Arbeit könnte das Museum so nicht ersetzen. Wir freuen uns über neue Ideen aus dem Förderkreis und das vielschichtige Programm. Der Verein hat Wurzeln in die Stadtgesellschaft, er ist eine beratende Stütze durch ständigen Austausch und durch den Spiegel an Rückmeldungen.

Sein Lieblingsbild: „White Relief over Black“, 2004, von Ellsworth Kelly. Das war Jörg Daurs erste hochkarätige Erwerbung fürs Museum Wiesbaden. (Foto: Museum Wiesbaden/Bernd Fickert)

Zum Schluss: Welches ist Dein Lieblingsbild?

Es gibt so einige Werke, die mich damals auch nach Wiesbaden gelockt haben, zum Beispiel von Eva Hesse und Donald Judd. Aber natürlich liebe ich auch die Arbeiten, die ich dann erwerben konnte. Besonders heraus sticht hier unser Ellsworth Kelly, „White Relief over Black“, von 2004. Dies ist meine erste hochkarätige Erwerbung, die ich alleine für das Museum getätigt habe, inklusive Einwerben der nötigen Finanzmittel. Daher: Das ist mein Lieblingsbild.

Das Gespräch führte Ingeborg Salm-Boost


Zur Person
Jörg Daur (46) ist stellvertretender Direktor des Museums Wiesbaden und Kustos der Gegenwartskunst. Schon zu Volker Rattemeyers Zeiten kam er ins Haus, zunächst als Praktikant. Jörg Daur, geboren in Reutlingen und aufgewachsen in Pfullingen am Fuß der Schwäbischen Alb wollte eigentlich nach dem Abitur Physik studieren, er dachte auch daran, Ingenieur oder Architekt zu werden. Ein Freund von ihm war nicht ganz unschuldig daran, dass er sich dann aber der Kunstgeschichte zuwandte. Da befasste sich der Sohn eines Lehrerehepaars, der gleich zwei Pastoren als Großväter hatte, in Tübingen zunächst mit der Archäologie, die für die Kunstgeschichte, so erklärt er, eine wichtige Rolle spielt. Er studierte auch Religionswissenschaften, zunächst in Tübingen, dann in Frankfurt. Der junge Daur wechselte schließlich zur Philosophie und der Ästhetik, das passte besser, sagt er im Rückblick zur Kunstgeschichte der Gegenwart. An der Uni Frankfurt befasste er sich unter anderem mit Kant und Hegel, mit Heidegger und Adorno. Und stellte sich die Frage: „Was nehmen wir als schön wahr?“ Dass er sich immer auch fürs Zeichnen und etwa fürs Ingenieurwesen interessierte, kommt ihm, ist er überzeugt, bis heute beim Kuratieren zugute. Ebenso wie sein Faible für Organisation und Kalkulation. So nahm er dem früheren Direktor viel Zahlen-Arbeit ab. Er sei eben auch ein Zahlenmensch, sagt Daur über sich. Seine Doktorarbeit schrieb er über Eva Hesse, 2007 wurde er promoviert. 2002 hatte er seinen Magister abgeschlossen. 2004 begann die Zeit als Volontär im Museum Wiesbaden. Bereits 2000 hatte er als Praktikant die Ausstellung Vollrad Kutscher mitaufbauen dürfen. Außerdem arbeitete er bei Vize-Direktorin Renate Petzinger im Büro. Da, erinnert sich Jörg Daur, hatte er auch mit den Freunden des Museums zu tun, in deren Vorstand Renate Petzinger aktiv war. Er fing Feuer für die Museumsarbeit, zuvor hätte er sich eher eine Professorenstelle an der Uni als Berufsziel vorstellen können.
Und was macht der Privatmann Daur? Er lebt mit seiner Frau Kerstin Siedenburg, die in der Schulsozialarbeit tätig ist, und drei Töchtern im Alter von 22, 15 und 13 Jahren in einem Haus mit Garten in Biebrich. Gartenarbeit ist denn auch eines seiner Hobbies. Außerdem ist er Fußballfan, und zwar Anhänger von Mainz 05. Mit der ältesten Tochter ist er – vor Corona – mit Dauerkarte gerne zu den Heimspielen gefahren. Auch schätzt Jörg Daur den früheren Mainz-05-Trainer Jürgen Klopp sehr. Nicht viel Aufhebens will der Museumsmann von seinem speziellen Engagement an Fastnacht machen, er bestätigt aber: In Mainz, wo er früher lebte, tritt der Kustos schon einmal als politischer Büttenredner in Kneipen auf. (isa)

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