KunstStücke
Weltflucht im Workshop
Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder unbefangen, ja kindlich-naiv an Birken vorbeispazieren kann. Die Birke, nur vermeintlich unschuldig und zufällig. In Jugendstilbildern ist diese Baumart das, was in heutigen Gärten Bambus und Kirschlorbeer sind: ein Standard, inflationär vorhanden. Im Gegensatz zu dieser einfallslosen Begrünung muss man im Fall der Birke sagen: Achtung, Symbolgehalt! Ob einzeln, zu zweit, als Hain oder gar über Kreuz (spätestens jetzt ertönt ein Alarmsignal!), wie etwa in den Bildern Oskar Zwintschers – im Jugendstil ist nichts mal eben so, sondern ist alles symbolisch aufgeladen, regieren Anleihen und Zitate, mitunter als Hommage an geschätzte Künstlerkollegen.
So etwas lerne ich am liebsten vor Ort an Beispielen, konkret im Workshop „Oskar Zwintscher im Jugendstil – Zwischen Weltflucht und Moderne“. Reich beschenkt wurden all die Freunde, die rund zweieinhalb Stunden mit Dr. Peter Forster verbringen konnten. Der Nachmittag zeigte sich als ein einziges großartiges Feuerwerk an Insider- und Hintergrundwissen mit Anekdoten zur Ausstellung und dem Kunstbetrieb. Dies alles so eloquent, lebendig und spannend inmitten der aktuellen Zwintscher-Schau sowie der Jugendstilsammlung des Museums vermittelt, dass man nur sagen kann: Respekt, Dr. Forster, das war kein Workshop, das war ein Ereignis, das in Erinnerung bleibt! Die Qualität eines solchen „Kunstunterrichts“ beschreibt eine Äußerung des US-Historikers John Henrik Clarke zutreffend: „A good teacher, like a good entertainer first must hold his audience’s attention, then he can teach his lesson.“
Stichwort „Erinnerung“, auf die ich in diesem Beitrag zurückgreife. Was ist mir im Gedächtnis geblieben, was empfand ich als besonders, was als eher schräg? Erinnerungen sind subjektiv, kein Zweifel. Würde man alle Teilnehmer des Workshops zu Wort kommen lassen, es wäre ein bunter Reigen an Inhalten. Da wären zum einen die Birken, siehe oben, die in einem frühen Porträt Adeles, Zwintschers Muse und späterer Ehefrau, über Kreuz auftauchen. Demnach sind hier zwei Menschen miteinander verbandelt, konkret Künstler und Bildmotiv Adele. Überhaupt Adele. Geradezu obsessiv mutet ihre Wahl als Sujet an. „Adele im Hamsterpelz“ (1914), Adele als Aktdarstellung auf einer Hamsterfelldecke („Gold und Perlmutter“, 1909), Adele in einer Art Laube mit Blumen aller Art und Efeuhecke („Bildnis in Blumen“, 1904), was mich an Mariendarstellungen im Rosenhaag denken lässt, Adele hier, Adele da, Adele überall. Jedes Mal anders, jedes Mal besonders, jedes Mal vollendet genial. Ausdruck, Hände, Schmuck, sämtliche Details ihrer Erscheinung und das so genannte Drumherum – Hintergrund, Ornament – faszinieren mich, denn das hier ist die Handschrift eines Meisters. Gleiches lässt sich von anderen Porträts sagen, die Zwintscher anfertigte. Manches Zubehör im Bild mutet geradezu fotorealistisch an, wie z. B. die Schatulle aus Perlmutt in der oben erwähnten Aktdarstellung oder die Handschuhe im „Bildnis der Gattin des Künstlers“ (1902). Bei jedem Betrachten entdecke ich auch wieder Neues, und so werde ich mich nach mittlerweile drei Besuchen der Ausstellung sicher noch ein viertes Mal durch die Räume treiben lassen.
Doch sprechen wir über Geld … Kunst als brotlos und sicheren Weg ins finanzielle Abseits zu werten, mag gängig sein, verrät jedoch ein gewisses Maß an Unkenntnis. Nicht jede Künstlerbiografie, ob vergangen oder zeitgenössisch, endet im Armenhaus. Bezogen auf Oskar Zwintscher durften die Workshop-Teilnehmer aufatmen: stabile Verhältnisse, angekommen im Bürgertum nicht zuletzt dank Lehrauftrag an der Kunstakademie in Dresden, dort eigene Villa in bester Lage. Salopp formuliert: Es ist Geld da. Dieses spült u. a. ein hochgradig lukrativer Auftrag der Schokoladenfabrik Stollwerck in die Kasse. Gegenstand sind sechs bunte, im Grunde unscheinbare Kärtchen, die Sammelkartenserie „Jahreszeiten“ (1898), die Zwintscher gestaltet. Ich begutachte den in einer Vitrine liegenden Satz Karten, dem ich zuvor wenig Aufmerksamkeit zukommen ließ, nun mit ganz anderen Augen. Zwintscher also kein Bedürftiger, abhängig von launischen Mäzenen oder einer reichen Ehefrau, keine verkrachte Existenz, kein erst nach dem Tod als solches erkanntes und dann hoch gehandeltes Genie. Insofern täuscht das Foto im ersten Raum der Ausstellung den ankommenden Besucher, es ist Hugo Erfurth, einem engen Freund des Malers zu verdanken. Zwintscher als arger Zausel, indes nicht als armer Mann, die Optik als Pose, ich denke unwillkürlich an manche Auftritte Julian Schnabels.
Die Richtung stimmt, denn um Kunst zu kaufen, braucht es, tja, genau, Geld, sprich ein Konto, auf dem nach Abzug aller Verpflichtungen genug übrig bleibt für dieses Vergnügen. Auf Museen trifft dieser Umstand selten bis nie zu, auf Privatsammler schon. Vorhang auf für James „Jack“ Daulton, US-amerikanischer Kunsthistoriker, Kunstsammler und Prozessanwalt, der sich gemäß Foto im Internet (ich gebe es zu, ich war neugierig) rein vom Aussehen her harmonisch in die Reihe Zwintscher/Schnabel einfügt. Man ahnt noch nicht, was von Dr. Peter Forster dann lebhaft ausgeführt wird: Daulton schnappt bei einer Auktion ein vom Museum Wiesbaden anvisiertes Bild weg. Es ist Hans Ungers „Fräulein Heinze im roten Kleid“ (ca. 1916). Unger, so höre ich beim Workshop, gehörte zu Zwintschers Kreis. Eine sich an die geschilderte Niederlage anschließende intensive Kommunikation zwischen Kurator und Sammler endet zwar nicht mit einer Schenkung, die gerne noch folgen darf, aber dennoch erfolgreich. Das Werk kann als Leihgabe in der Ausstellung präsentiert werden, danach verbleibt es als Dauerleihgabe im Haus. Besagte „Adele im Hamsterpelz“ ist ebenfalls Teil der Daulton-Collection.
Es ließe sich noch mehr schreiben, zweifellos. Über Zwintscher und Worpswede oder über die fantastischen Landschaftsbilder; wie gebannt bin ich von „O wandern, o wandern“ (1903) oder vom „Sommertag“ (1896). Ich denke zudem an das Schicksal vieler Künstlerinnen, die im Schatten ihrer berühmten Partner standen, nicht freiwillig, sondern sozialen Konventionen geschuldet.
Die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff ist solch ein berührender Fall, von Zwintscher grandios porträtiert. Rilke, der ihr angetraute, für seine Lyrik Gefeierte, bremst ihr bildhauerisches Schaffen aus und erweist sich insgesamt als anstrengender Charakter, wie eine Anekdote Dr. Forsters enthüllt. Werde ich die Gedichte Rainer Maria Rilkes je wieder mit ungetrübter Freude lesen können? Lässt sich das Werk von der Person trennen? Ich fürchte nicht. Glücklicherweise muss ich bei Oskar Zwintscher keine Differenzierung leisten, gehen Person und das bedauerlicherweise nicht allzu umfangreiche Œuvre stimmig Hand in Hand. Mit Wehmut werde ich von dieser Ausstellung Abschied nehmen, ihre Bilder wurden zu Freunden.
Anne-Marie Djaković
Zur Person
Dr. Anne-Marie Djaković, zurzeit freischaffend im Bereich Textarbeit und Lektorat tätig, engagiert sich bei Projekten rund um Literatur, Kunst und Kultur. Seit 2020 ist die Wahl-Mainzerin Mitglied bei den Freunden des Museums Wiesbaden. Sie wertschätzt das Haus der Kunst und Natur als „zweites Zuhause“, in dem sie gerne bei den Jours fixes oder Künstlergesprächen auf Gleichgesinnte trifft. (red)
Tipp:
Die Ausstellung Weltflucht und Moderne – Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 läuft noch bis 23. Juli. Am 20. Juli präsentieren die Autoren Dr. Andreas Dehmer und Dr. Susanna Partsch ihr Buch „Symphonie in Schwarz. Eine Spurensuche zwischen Lebensreform, Frauenbewegung und Bohème“. Die letzten Führungen finden am 22. und 23. Juli statt (vgl. Kalender des Museums Wiesbaden).