Kunstvoll und Naturnah

Madonna auf der Mondsichel

„In einem Winkel, hinter dem Altar, der aus Mauersteinen aufgesetzt ist, birgt sich eine lebensgroße Statue der Maria mit dem Jesusknaben. Es ist schade, daß diese interessante Holzschnitzerei den Würmern zur willkommenen Speise ausgeliefert ist.“ So beschreibt ein Besucher der evangelischen Liebfrauenkirche in Oberauroff bei Idstein 1908 das Bildwerk, das er dort antrifft. Nachdem die Madonna 1912 von der Kirchengemeinde ans Museum Wiesbaden verkauft wurde, bevölkert sie heute als Teil einer Skulpturensammlung überwiegend regionaler Provenienz den sogenannten Kirchensaal des Museums. Nur noch der Name des Ausstellungsraums erinnert an die sakrale Herkunft. Das einstige Kultbild wird längst als Kunstwerk rezipiert. Auch vom Wurmfraß ist es nicht mehr bedroht. Es wurde von 2000 bis 2003 restauratorisch und kunsthistorisch bearbeitet.

Madonna aus Oberauroff im sogenannten Kirchensaal des Museums Wiesbaden, daneben vier Reliefs: Verkündigung, Geburt Christi, Anbetung der Könige, Darbringung im Tempel (Foto Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)

Aus derselben Kirche wie die Madonna stammen vier Reliefs, die Szenen der Kindheit Christi darstellen: Verkündigung, Geburt Christi, Anbetung der Könige und Darbringung im Tempel. Die vier Relieftafeln wurden bereits 1829 für das Museum erworben. Vieles spricht dafür, dass sie mit der Madonna ehemals eine Einheit in einem Flügelalter gebildet haben. Die Madonna als prominenteste Figur im Zentrum wäre gemeinsam sichtbar gewesen mit den paarweise angeordneten Reliefs der Flügelinnenseiten in aufgeklapptem Zustand.

Heute noch befindet sich in der Kirche ein Gemälde, das die Apostel mit Christus – das Abendmahl – wiedergibt. Dieses Gemälde dürfte als Predella unseres Altarwerkes gedient haben. Demnach dürfen wir uns die verlorenen Außenseiten der Altarflügel auch als Malerei vorstellen. Alles in allem also eine relativ aufwendige Ausgestaltung gemessen an der Größe der Dorfkirche.

Für die Madonna wie auch für die Reliefs hat man die Herkunft aus derselben Werkstatt vermutet und beide in die Zeit um 1500 bis 1510 datiert. Einen versteckten Hinweis auf den Namen des ausführenden Künstlers findet man auf den Reliefs selbst. Auf dem Mantelumschlag des Joseph in der „Geburt Christi“ kann man den Namen „Joseph Aurin“ lesen, was man zu „Auring“ ergänzt und eine Verbindung zum nicht allzu weit entfernten Ort Auringen vermutet hat.

Wiederholt wurde in der Forschung – trotz der Betonung qualitativer Differenzen – auf stilistische und motivische Anklänge unserer Skulptur an die berühmte Ulmer und Augsburger Werkstatt des Michel Erhart und dessen Sohn Gregor hingewiesen. Genannt werden muss hier der Blaubeurer Altar sowie eine Madonna aus Blaustein-Ehrenstein. Man muss davon ausgehen, dass unser Bildhauer die Erhartschen Werke mindestens gekannt hat. Damit lässt er sich sicher verorten innerhalb der spätgotischen deutschen Bildhauerkunst.

Madonna mit Kind auf der Mondsichel, in die ein liegender weiblicher Kopf eingebunden ist (Foto: Bernd Fickert/ Museum Wiesbaden)

Die Madonna aus Oberauroff ist 1,45 Meter hoch, aus Lindenholz geschnitzt und farbig gefasst. Sie steht dem Betrachter frontal gegenüber. Auf ihren Händen hält sie das Christuskind, dessen Arme nicht erhalten sind. Sie trägt ein eng am Oberkörper anliegendes Kleid und darüber einen weiten, stoffreichen, in schweren Falten sie umhüllenden Mantel. So wird einerseits die Körperform betont hervorgehoben, andererseits zugleich unter der knittrigen Mantelfülle verdeckt. Das Standmotiv mit fester Achse, bewegtem Spielbein und geschwungener Hüfte ist gerade erkennbar und soll doch unklar erscheinen. Mit einer anatomisch richtigen Darstellung eines weiblichen Körpers haben wir es hier nicht zu tun. Ihr Standbein ist nicht zu sehen. Die feste Achse der Figur wird durch den Mantelverlauf mit herabfallenden Faltenkaskaden gebildet. Es ist die Achse der Skulptur, des Kunstwerks, nicht die des menschlichen Körpers. Die fallenden Faltenkaskaden wie die hohen Grate und tiefen diagonal verlaufenden Täler führen alle zu einem Punkt. Sie leiten unseren Blick von der Maria zum Christuskind, konzentrieren sich buchstäblich an der Spitze des Kinderfußes. Die Arm- und Handhaltung der Maria tut ihr Übriges. Parallel zum Faltenschwung hält sie uns nicht nur ihre schönen Hände entgegen, mit denen sie in zarter Geste das Kind vor sich trägt. Mit beiden Händen weist sie auf das Kind. Wir können nicht anders – unser Blick wird gezielt zum Kind hingeführt. Hier ist der Kulminationspunkt der gesamten Komposition. Mit zurückgelegtem Haupt und dem leisen Anflug eines Lächelns nimmt das Christuskind Kontakt zu uns auf. Nicht Maria schaut uns an. Ihr Gesicht, das vom langen offenen Haar umspielt wird, das sie als junge Frau kennzeichnet, ist uns zwar gegenüber, ihr Blick führt jedoch abermals zum Kind. Auch hier ist Maria diejenige, die den Kontakt zum Christuskind vermittelt. Sie ist dargestellt nicht für sich selbst, sondern in Beziehung zu Christus. Dabei nimmt sie gleichsam die Mittlerrolle zwischen Gott und Mensch ein. 
Sie erfüllt diese Rolle ganz innerhalb der Darstellungskonvention ihrer Zeit. Maria wird längst nicht mehr als die hieratisch Thronende dargestellt. Die Mütterlichkeit der jungen Frau wird betont, die Beziehung zum Kind lebendiger, liebevoller, von Zuwendung geprägt.

Ein in der Großplastik seit dem 15. Jahrhundert sehr verbreitetes Motiv ist die Madonna auf der Mondsichel. Zu Füßen unserer Madonna befindet sich eine nach oben geöffnete Mondsichel, in die noch ein liegender weiblicher Kopf, vermutlich einer älteren Frau mit Stirnbinde, eingebunden ist. Theologisch wird das Motiv mit einer Textstelle aus der Apokalypse des Johannes (Apc. 12, 1-18) in Verbindung gebracht: „… eine Frau, mit der Sonne bekleidet, mit dem Mond unter den Füßen und mit einer Krone von 12 Sternen“. Diese bringt einen Sohn zur Welt und wird von einem Drachen bedroht. Der Sohn wird von Engeln emporgetragen, die Frau kann sich retten und der Drache wird vom Erzengel Michael besiegt. Darstellungen dieser apokalyptischen Frau findet man zunächst in der frühen mittelalterlichen Buchmalerei (z.B. Bamberger Apokalypse). Sie wird dann später in der theologischen Interpretation mit Maria identifiziert.
Das Motiv der Mondsichelmadonna erfährt eine große Verbreitung bis hin zu den unzähligen Darstellungen der Madonna im Strahlenkranz im 17. und 18. Jahrhundert.

Martina Frankenbach


Erfahren Sie mehr zu Martina Frankenbach, Leiterin der Kunstbibliothek des Museums Wiesbaden, im Interview.

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