Mehr als nur ein Lichtblick

Ein ergebnisoffenes Projekt

Nach einer von mir geführten Schülergruppe der Schule am Geisberg kamen die betreuenden Lehrkräfte, Lisa Schorr und Diego Conrad, auf mich zu, mit der Frage, ob ich mir nicht eine Besuchsreihe für diese Gruppe unter meiner Leitung vorstellen könne.

Das Vorhaben

Daraus wurde die Idee, einmal monatlich einen aktiven Museumsbesuch mit einer festen Gruppe, nämlich Angela, Amir, Benjamin, Abdullah, Ben und Kiano im Alter zwischen 12 bis 16 Jahren für die Dauer von zwei Schulstunden zu starten. Dieses  mit dem Ziel, Interesse an den Sammlungen des Museum Wiesbaden, ja überhaupt am Besuch eines Museums zu wecken.
Dabei setzte ich ganz auf die Kraft der Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten moderner museumspädagogischer Bildungsarbeit (z.B. Dialog stärken durch diverse Karten-Sets, Hands-On-Materialien, Atelierarbeit mit gestalterisch-haptischem Potenzial), stets direkt am Exponat orientiert, ohne einen theoretischen Überbau voranzustellen.
Von Anbeginn war mir wichtig, ein Vertrauensverhältnis zu der Schülerin und den Schülern aufzubauen, dem durch ein von mir ausgewähltes Setting Rechnung getragen werden sollte: einen geschützten Ort in Form eines für die Gruppengröße passenden Ateliers, Sitzkissen für den Sitzkreis, Atelierzubehör, Wasser, Tee und Kekse anzubieten, damit sich alle wohl und gut aufgehoben fühlen können.

Zum ersten Mal inmitten der vielfältigen Eindrücke im Haus der Kunst und Natur: Der Blick von der Empore im 2. Obergeschoss auf die Bodenspiegelinstallation von Rebecca Horns „Jupiter im Oktogon“ beeindruckte die Gruppe aus der Schule am Geisberg. (Foto: Diego Conrad)

Weit gefehlt

Nach einem ersten Termin mit einem „ungezwungenen Rundgang im Schlendermodus“ durch die naturhistorischen Sammlungen, bei dem die Teilnehmenden teilweise die Gangfolge selbst bestimmen konnten, wählte ich als Themenfeld für den zweiten Termin „Die Ursprünge der Malerei“ aus, mit dem Ziel, der Schülerin und den Schülern eine Basis für das Verständnis von Farbe von seinen Ursprüngen her mitzugeben. Konkret: Die Höhlenmalereien im Themenraum „Zeit“ mit dem anschließenden Workshop-Thema „Farbe aus natürlichen Erden selbst herstellen und damit malen“ war die genaue Themenstellung. Hatte ich damit Erfolg?

Weit gefehlt! Nicht das Thema allein stieß auf Widerstände seitens einiger Gruppenmitglieder (was sich schnell auf die anderen übertrug, sodass eine Weiterführung mir sinnlos erschien), sondern die Vorgehensweise selbst erinnerte diese offenbar so sehr an die Erfahrungen in der Schule, dass sie nicht nur ihren Unmut äußerten, sondern teilweise sogar die Weiterarbeit verweigerten. Immerhin schafften es zwei von ihnen, die selbst hergestellte Farbe zu nutzen, in dem sie damit eigene Malversuche erprobten.

Allein das „Austeilen von weißem Papier“ triggerte einige so sehr, dass sie sich geschockt und angewidert, ja lautstark vom Ateliertisch abwanden. Offenbar war und ist bei ihnen mit der Geste des ‚Austeilens von leerem Papier‘ der schulische Zwang, etwas Kreatives leisten und abliefern zu müssen, was noch dazu bewertet wird, fest verknüpft, dass es bei ihnen Stress-Reaktionen auslöst.

Umdenken

Infolgedessen stellte ich mein Programm komplett um. Im Dialog mit der Schülerin und den Schülern fanden wir gemeinsam heraus, dass sie ein „Blick hinter die Kulissen“ eher interessiert, als das „Abklappern“ (aus deren Sicht!) von Sammlungsobjekten, um dann daraus auch noch etwas Kreatives machen zu müssen, was direkt oder indirekt in eine zu bewertende Leistung münden würde.

Damit war die Idee geboren, die Gruppe fortan einzelne Abteilungen kennenlernen zu lassen, die ihnen mehr lebenspraktische Bezüge bieten würde.

Als Vorbereitung dazu dienten Blanko-Kärtchen, auf die die Mitglieder der Gruppe mit selbst gewählten wasserfesten Farbstiften Fragen zu notieren hatten, um für ein Kurzinterview gerüstet zu sein, wohlwissend, dass die zu Interviewenden ja ihr Tagesgeschäft verrichten würden, also nur wenig Zeit mitbrächten.

Der Rundgang startete mit dem Besuch der Abteilung „Haustechnik mit Schreinerei/ Lackiererei“, dann folgte der des Sekretariats mit Assistenz des Direktors und anschließend der des Direktors selbst.
Obwohl nicht alle Abteilungen aus Sicherheitsgründen für einen Besuch möglich sind (z.B. Gemälderestaurierung), bleiben noch genug spannende Einblicke in verschiedene Tätigkeitsfelder übrig, die die Schülerin und die Schüler im Laufe dieses Jahres erleben werden.

Zaghafte Annäherung: Uwe Lausens Arbeit „Schlaraffenlandschaft“ (1962) in der Kunstgalerie weckt Benjamins Interesse. (Foto: Diego Conrad)

Weg gefunden?

In diesem Modus wird die Reihe fortgesetzt, mit der Offenheit und Sensibilität dafür, dass möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt bei der Gruppe doch einmal das Interesse an den Sammlungen selbst geweckt wird und wir dann in einen echten Führungsdialog einsteigen können.

Der Einstieg in einen ersten Dialog: Mit der Auswahl „Rote Karte – Grüne Karte“ und dem „Chinesischen Korb“ nahm dieser Fahrt auf. Die Gruppe der Schule am Geisberg vor der Arbeit „587/ 69“ aus dem Jahr 1969 von Rupprecht Geiger (1908–2009). (Foto: Diego Conrad)

Vergangener Besuch – mehr als nur ein Lichtblick!

Ende Juni startete ich zusammen mit den beiden Lehrkräften einen neuen Versuch –  beiläufig eingefädelt – die Mitglieder der Gruppe neugierig auf die Sammlungen des Hauses zu machen. Ich stellte mehrere Sammlungsbereiche von Kunst und Natur zur Auswahl, und kündigte diverse spielerische Zugangsmittel wie „Rote Karte – Grüne Karte“ und den sogenannten „Chinesischen Korb“ an und ließ sie abstimmen. Die Wahl fiel auf die „Sammlung Alter Meister“ und die „ moderne und zeitgenössische Kunst“. Dann stimmten wir nochmal ab, welche Abteilung wir zuerst besuchen.

Die Abstimmung ergab einen Besuch der Sammlung zeitgenössischer Kunst als erste Station. Die Mitglieder der Gruppe sowie die Lehrkräfte bekamen rote und grüne Karten und sollten ganz spontan diese (grün für „spricht mich an“ und rot für „spricht mich nicht an“) vor den Werken ablegen, mit dem Auftrag, die eigene Wahl jeweils zu begründen. Tatsächlich nahmen alle, wenn auch zunächst zögerlich, das Angebot an und es entstand ein erster wirklicher Dialog, der sich rasch in eine echte „Wahrnehmungsarbeit“ ausweitete, ohne dass dies von der Schülerin und den Schülern als Arbeit empfunden wurde.

Hatte gute Gründe für seine Wahl: Ben ordnet ein blind gezogenes Objekt aus dem „Chinesischen Korb“ (hier ein Friseurpinsel) der Skulptur „Heiliger Michael“ Mittelrhein (unter kölnischem Einfluss, um 1460/70, Eiche) im Kirchensaal zu. (Foto: Diego Conrad)

Im zweiten Teil wurde die Sammlung der Alten Meister besucht. Die Gruppe sowie die Lehrkräfte zogen blind einen Gegenstand aus einem Korb. Aufgabe war, ein Werk zu finden, zu dem der gezogene Gegenstand in irgendeinem Sinne passt, rein assoziativ.

Auch hier wurden alle Teilnehmenden fündig und die zum Teil recht originellen Assoziationen sorgten für Heiterkeit, was die Lust am weiteren Wahrnehmen und den Austausch darüber beförderte. Auch erste Fragen wurden gestellt …

Mit Freunde und Engagement bei der Sache: Benjamin im Kirchensaal vor „Vier Reliefs mit Szenen aus der Kindheit Christi“ (Fragmente eines Retabels aus der Liebfrauenkirche in Oberauroff, Mittelrhein, um 1500–1510). (Foto: Diego Conrad)

Es scheint, als hätten einige der Gruppenmitglieder durch die Routine der Besuche, verbunden mit kleinen vertrauten Ritualen (Sitzkreis, Tee, Kekse) bereits einen Zugang zu Teilen der Sammlungen und Ausstellungen gefunden. Dieses erfreuliche Ergebnis gibt Anlass zur berechtigten Hoffnung, dass sie sich auch künftig darauf einlassen werden, das Museum Wiesbaden – eine Vielfalt an Möglichkeiten – zu entdecken und zu erleben. Dass dazu stets ein kleines, aber entschiedenes „Anstupsen“ notwendig ist, gehört zu den Binsenweisheiten der Pädagogik.

Daniel Altzweig


Einen weiteren Blick auf das Projekt „Schule am Geisberg entdeckt das Museum“ ermöglicht hier im Folgenden der Beitrag aus der Perspektive der betreuenden Kunstlehrerin Lisa Schorr:

Museum für Menschenkinder

Die Menschen

Vier bis acht Schülerinnen und Schüler der Schule am Geisberg in Wiesbaden, ein Museumspädagoge, zwei Lehrkräfte.
Alle Schülerinnen und Schüler kommen aus ungewöhnlichen Lebenssituationen. Sie bringen Geschichten des Lebens mit, die von sozialen Räumen erzählen. Tägliche Grenzerfahrungen wirken sich auf ihre seelische und emotionale Entwicklung aus. Ablehnung, Eingrenzung, Einsamkeit, Ausgrenzung gehen einher mit psychischer und physischer Gewalt. Unsicher bewegen sie sich im öffentlichen Raum, vieles ist unbekannt und fern ihrer eigenen Wahrheit. Dazu zählte auch das Museum.

Die Aufgabe

Erschaffung eines außerschulischen Lernortes mit Mitteln des Museums für Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren. Einmal im Monat für 1 bis 2 Stunden.

Von der Idee in den Prozess

Nicht die Kunst und deren schulische Vermittlung stand hierbei im Vordergrund. Vielmehr ging es um die Öffnung neuer, unbekannter (Kultur-)Räume, um Neugierde, um Perspektivenvielfalt und um Impulssetzung zur individuellen Wahrnehmung. Daniel Altzweig, seines Zeichens Museumspädagoge, ließ sich auf die Begegnungen mit den Grenzgänger:innen ein. Innerhalb von sechs Monaten gestaltete er einen intensiven Begegnungsraum, der die Kunst und das Museum nicht nur als Werk und Institution näherbrachte, sondern füllte ihn mit unterschiedlichem Menschensein und Wärme.

Die Schülerinnen und Schüler erblickten die unterschiedlichsten Werkstätten des Museums. Sie stellten dem Museumsdirektor allerhand Fragen, wie z. B. „wieviel er so verdiene und wie man am besten ins Museum einbrechen könnte“. Der Künstler Anton Kokl erzählte von Interferenzfarben. Techniker gaben Einblicke in das komplexe Belüftungssystem. Wachpersonal erklärte die Notwendigkeit der Museumsregeln und die Verwaltung und Buchhaltung gaben Auskunft über die komplexe Organisation einer Ausstellung. Alles war in Bewegung im Museum, innerhalb der Kunst und hinter den Ausstellungsräumen. Mit jedem Besuch veränderten die Kinder ihre Haltung zum musealen Raum.

Das alles gelang nicht immer reibungslos. Häufig musste Daniel Altzweig mit eiskaltem Schweigen, verbaler Ablehnung und übermäßigem Fragengewitter umgehen und dies meist kombiniert mit motorischer Unruhe. Manchmal hätte man meinen können, eine Gruppe junger Hundewelpen durch das Museum zu führen. Dies alles war eine gewaltige Herausforderung für Lehrkräfte, Museumspädagoge und Schüler:innen zugleich.

Die Bildende Kunst, die „Institution Museum“ als solches, wurde mit den Menschen, die diesen Ort gestalten, verknüpft und gezeigt. Dadurch war es den Kindern möglich, die Kunst kennenzulernen, Berührungsängste abzubauen und ihre Neugierde zu entfachen.

Die Kunst und ihr museales Umfeld wurden auf eine ganz unkonventionelle Art und Weise zum Lehrmaterial.

Herzlichen Dank an all die Menschen, die sich auf diesen Begegnungsraum eingelassen haben!

Lisa Schorr


Zu den Personen
Daniel Altzweig gehört neben Gabriele Knepper, Astrid Lembcke-Thiel und Ann-Katrin Spieß zum Kernteam der Abteilung „Bildung und Vermittlung“ des Museum Wiesbaden. Seine Aufgabenschwerpunkte sind – neben logistisch-administrativen Tätigkeiten – die Konzeption von Formaten und Angeboten im Bereich Kunst, übergreifend Kunst und Natur, Beratung, sowie die Erprobung von Sonderformaten für diverse Zielgruppen wie Förderschulen, Geflüchtete und Blinde. Unterstützt wird das Team von Christine Scholzen, einer Abgeordneten des Staatlichen Schulamtes – verantwortlich für das Projekt „Museumsguides“ und die Fortbildung der Lehrkräfte – sowie einer FSJ-Kultur-Stelle, die zurzeit mit Eva Hellmich besetzt ist. Das Kernteam der „Bildung und Vermittlung“ ist für 25 freiberufliche Führungsleitungen in den Sparten Kunst und Natur verantwortlich, von denen die pädagogischen Veranstaltungen durchgeführt werden.

 

Lisa Schorr (geb. 1983), Künstlerin und Kuratorin, lebt und arbeitet in Mainz. Sie befasst sich in ihren Arbeiten mit der Sichtbarmachung von Farbräumen und den damit verbundenen Empfindungen von Atmosphären; hierfür lotet sie die Grenzen von Malerei und Raum aus. Ihr Studium absolvierte sie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Bonn. Neben der eigenen künstlerischen Praxis arbeitet sie als Kunstlehrerin. In Zusammenarbeit mit dem Kameramann und Musiker Heiner Brink kuratiert Lisa Schorr die Mainzer „Galerie Haus zum Stein“. (red)

 

 

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